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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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dass die unentdeckten Nephilim oft hoch begabte Menschen sind – manchmal jedoch in ihrem Leben scheitern, an ihrem Erbe kaputtgehen, psychisch labil sind?«
    Der Druck seiner Hand verstärkte sich. »Ich liebe dich, Sophie«, murmelte er, »die Jahre, da ich mich von dir ferngehalten habe, waren so unerträglich. Ich dachte, ich müsste dieses Opfer bringen – doch jetzt frage ich mich, ob es überhaupt einen Sinn hatte, ja, ob es nicht vielmehr ein schrecklicher Fehler war. Eins habe ich mir geschworen: Dass ich mir nicht wieder anmaßen darf, eine Entscheidung allein für andere zu treffen. Ich bin damals gegangen, weil ich es für richtig hielt, aber ich hätte dich nie vor vollendete Tatsachen stellen dürfen, dir nie verheimlichen dürfen, wer ich bin. Ich dachte, ich müsste dich schonen – und bewirkte genau das Gegenteil. Vielleicht hättest du damals die ganze Wahrheit nicht verkraftet, aber ich hätte darauf vertrauen müssen, dass du selbst entscheiden kannst, was zu tun ist, und wenigstens jetzt vertraue ich darauf. Ich werde mich dem fügen, was du entscheidest. Wie immer deine Entscheidung aussieht – ich werde alles tun, um dich zu unterstützen.«
    Er nahm meine zweite Hand, drückte sie, zog mich an sich. Wir blickten uns an. Bis jetzt hatte ich vor allem Auroras Wohl im Sinne gehabt, doch als ich in seinen blauen Augen versank, dachte ich über mein eigenes zukünftiges Leben nach. Wie würde es ohne ihn verlaufen? Wie konnte ich ertragen, nicht mit dem Mann zusammen zu sein, den ich liebte – trotz allem, was ich über ihn wusste und was geschehen war? Aber was bedeutete es, mit ihm zu leben? Immer mit einem Kampf rechnen zu müssen? Und noch etwas anderes bereitete mir Sorgen. Er gehörte zu den Unsterblichen, ich nicht. Wer uns heute hier sitzen sah, sah ein schönes Paar – aber welchen Anblick würden wir in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren bieten?
    »Egal, wie es mit uns weitergeht, Sophie«, murmelte er, »eines musst du mir hier und jetzt versprechen. Du musst wieder anfangen, Klavier zu spielen.«
    Ich schüttelte irritiert den Kopf. Dieses Ansinnen schien so unwichtig in einem Augenblick wie diesem, nahezu lächerlich! Doch als ich weiterhin in seine Augen blickte, konnte ich die Musik hören – konnte uns beide hören, wie wir Rachmaninow gespielt hatten. Die Sonate in g-Moll.
    Ich sah uns im Überaum, auf der Steinterrasse, an der Salzach entlangspazieren, im Morgenlicht stehen und uns küssen – und da beugte ich mich vor, küsste ihn auch jetzt, und er erwiderte den Druck meiner Lippen, das Tasten meiner Zunge.
    Das Tageslicht schwand, die Luft wurde kühl, und wir küssten uns immer noch. Als der Himmel sich endgültig schwarz gefärbt hatte und uns Mücken auf der Suche nach Wärme und Licht umsurrten, erhob ich mich, ohne seine Hände loszulassen.
    »Komm«, sagte ich mit rauer Stimme und zog ihn mit mir, »komm hinein.«
    Als wir im Wohnzimmer auf dem Sofa lagen, glaubte ich das altvertraute Flirren in der Luft zu spüren, diese Spannung, wie damals in seiner Wohnung, als ich das Gefühl hatte, wir würden uns gleichzeitig anziehen und abstoßen.
    Er löste seine Lippen von meinen, nahm meinen Kopf in seine Hände, betrachtete mich.
    »Bist du sicher?«, fragte er.
    »Was wir künftig tun und wie wir leben sollen?«, fragte ich, »Nein, bin ich nicht. Aber einer Sache bin ich mir sicher. Ich würde es nicht ertragen, wenn du jetzt gehen würdest.«
    Er lächelte. »Aber ich gehe doch nicht. Ich lasse dich nicht allein. Nicht heute Nacht.«
    Er neigte sich vor, küsste meine Stirn, meine Nasenspitze, meine Ohrläppchen. Die Stellen, wo mich seine Lippen trafen, schienen zu glühen; meine Härchen stellten sich auf. Ich schloss die Augen, spürte alles intensiver, nicht nur seine Berührungen, sondern auch die eigene Reaktion darauf. Mein Herzschlag war nicht einfach nur ein Pochen in der Brust, sondern ein Dröhnen im ganzen Körper, nicht unangenehm, eher wie Wellen aus weichem, warmem Wasser, in das ich tauchen, in dem ich mich treiben lassen konnte, mich reinwaschen von allem Schrecklichen, Beängstigenden, Sorgenvollen. Nur das Jetzt zählte – und die Erinnerung an die erste Nacht, die ich mit Nathan verbracht hatte. Sie wurde lebendig, ließ das Damals mit dem Heute verschmelzen. Das schüchterne, 19-jährige Mädchen, das Nathan so selbstverständlich berührt und gestreichelt hatte – vielleicht war es schon ein wenig die erwachsene Frau gewesen, die er damals
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