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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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klein und schutzlos in ihrem Bett, als sie die Augen aufschlug. Ihr Gesicht war weiß wie das Laken – ein Eindruck, der vom Verband um ihren Kopf verstärkt wurde. Nur wenige Haarsträhnen lugten darunter hervor.
    Der Arzt schob mich sanft zur Seite, schwenkte irgendetwas vor ihren Augen, das wie eine Taschenlampe aussah. Er schien mit ihrer Reaktion auf das Licht zufrieden zu sein, denn er nickte und sprach sie nun mehrmals mit ihrem Namen an. »Aurora? Aurora?«
    Ihre Augen waren erst starr auf ihn gerichtet, gingen dann suchend durch den Raum, blieben bei mir hängen.
    »Wo bin ich?«
    Sie konnte reden! Sie verstand ihren Namen! Tränen schossen mir in die Augen.
    »Aurora, Liebes, du bist im Krankenhaus … «
    »Mama … «
    Ich nahm wieder ihre Hand, fühlte zum ersten Mal seit Tagen, wie sie meinen Druck schwach erwiderte. Der Arzt führte weitere Untersuchungen durch, prüfte die Reflexe ihrer Arme und Beine.
    »Sieht ganz gut aus«, meinte er, »wir machen noch ein CT , aber wahrscheinlich wird sie keine bleibenden Schäden davontragen.«
    »Wo bin ich?«, fragte Aurora immer wieder.
    »Im Krankenhaus.«
    »Warum?«
    Ich wechselte einen Blick mit Nathan, und auch Auroras Blick ging nun zu ihm. Sie betrachtete ihn verwirrt. »Wer ist das?«, wollte sie wissen.
    Ich zögerte, seinen Namen auszusprechen.
    »Weißt du noch, was geschehen ist?«, fragte ich stattdessen.
    Die Verwirrung in ihrem Blick verstärkte sich. Ich überlegte, ob ich nachhelfen, ihr erzählen sollte, was zuletzt geschehen war, doch dann schwieg ich, weil ich das Grauen nicht erneut heraufbeschwören wollte.
    »Doch«, sagte Aurora plötzlich und drückte meine Hand fester. »Doch, jetzt erinnere ich mich wieder!«
    »Woran?«
    »Mein Geburtstag!«, stieß sie aus. »Habe ich etwa meinen Geburtstag verpasst?«
    Ihr Geburtstag war im März gewesen – jetzt hatten wir Juli.
    Wieder tauschte ich einen Blick mit Nathan.
    »Was genau ist es, woran du dich erinnerst?«, fragte ich.
    »An den Abend … wir haben meinen Geburtstag vorbereitet. Du hast Kuchen gebacken, Tante Nele wollte kommen … was ist geschehen? Bin ich schon sieben Jahre alt? Und ich habe noch gar keine Geschenke ausgepackt!«
    Es erschöpfte sie sichtlich zu reden, und sie schloss ihre Augen.
    Ich streichelte über ihre Hand. Alles was seit ihrem siebten Geburtstag geschehen war – ihre Veränderungen, der Umzug nach Hallstatt, der Kampf der Nephilim –, schien aus ihrem Gedächtnis getilgt.

    Cara schüttelte verwirrt den Kopf. »Das habe ich noch nie gehört«, sagte sie immer wieder.
    »Wie auch?«, fragte Nathan. »So etwas kommt sicher nicht oft vor.«
    Wir hatten uns in die Cafeteria zurückgezogen, um in Ruhe zu reden. Jetzt, am Abend, war sie leer, die Glastheke verschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Das Licht im Raum war schwach.
    »Wie merkwürdig«, murmelte Cara.
    Nathan ging unruhig auf und ab, während ich einfach nur dasaß, erschöpft wie selten zuvor, aber glücklich. Aurora ging es gut. Es waren keine Folgeschäden zu befürchten. Dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte, war in diesem Augenblick unbedeutend für mich.
    Cara aber war zutiefst verwirrt. »Wie merkwürdig«, wiederholte sie. »Ich verstehe nicht, dass ihre Erinnerungen ausgerechnet bis zum Abend vor ihrem siebten Geburtstag reichen. Ist es Zufall … oder hat es ihr Unterbewusstsein geschickt eingerichtet, dass alles, was mit uns Nephilim zu tun hat, wie ausgelöscht ist?«
    Nathan blieb stehen. »Der Gedächtnisverlust kann auch nur vorübergehend sein«, gab er zu bedenken. »Vielleicht wird sie sich eines Tages wieder an alles erinnern.«
    »Vielleicht aber auch nicht«, meinte Cara nachdenklich. »Vielleicht hat diese schwere Verletzung irgendeinen … Schaden verursacht, der ihre Verwandlung zur Nephila unmöglich macht.«
    »Schaden?«, rief Nathan entrüstet. »Angenommen, sie bleibt ein normales, glückliches Kind ohne außergewöhnliche Begabungen – willst du das wirklich als Schaden bezeichnen?«
    Cara zuckte mit den Schultern. Ich musterte sie eingehend, aber nahm keine Spuren wahr, die darauf hindeuteten, was sie durchgestanden hatte. Ihre Haare waren glatt nach hinten gekämmt, der strenge Mittelscheitel ließ ihr Gesicht noch herzförmiger erscheinen. Sie trug einen schlichten, schwarzen Rock und darüber eine helle Weste, die das Grün ihrer Augen betonte. In ihrem Blick stand Verwunderung über Auroras fehlende Erinnerungen, aber keine Trauer über Caspars Tod.
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