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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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glitt.
    Natürlich, er war bewaffnet. Wie auch nicht?
    Noch mehr als die Wärme des anderen hasste er das Gefühl, ständig getrieben und verfolgt zu sein, immerzu damit rechnen zu müssen, einem Widersacher zu begegnen – selbst in einem magischen Augenblick wie diesem.
    »Verschwinde!«, befahl ihm der andere. »Du hast hier nichts verloren!«
    Er blickte um sich und entschied, dass er im Angesicht so vieler Menschen einen erbitterten Kampf vermeiden musste.
    Auch das hatte ihn sein langes Leben gelehrt: Dass es besser war, im Verborgenen und ohne Zeugen an seinem Werk zu arbeiten. Und dass die Geduld eine größere Tugend ist als die Tollkühnheit, sich jederzeit in eine Schlacht zu stürzen.
    Eine Weile maßen sie sich wortlos, dann nickte er vermeintlich geschlagen. Ohne den Blick des Widersachers loszulassen, wich er in kleinen Schritten zurück. Erst als eine Distanz von zehn Metern zwischen ihnen war, drehte er sich um und verschwand hastig im Labyrinth der kleinen, verschlungenen Gässchen.
    Ja, beschwor er sich, es war klug gewesen, nachzugeben, aber das bedeutete nicht, dass er auf SIE verzichten würde. Bis zum letzten Blutstropfen oder was immer es war, was in seinen Adern floss, würde er um sie kämpfen.

I.
    Der Tag, an dem ich Nathanael Grigori zum ersten Mal begegnete und an dem mein Leben zugleich aufhörte und begann, war wechselhaft und stürmisch. In der letzten Woche hatte es häufig genieselt, und die Getreidegasse in Salzburg hatte sich in ein wogendes Meer aus Regenschirmen verwandelt. Aus diesem Meer ragten die Schirme der Reiseführer inmitten ihrer Touristengruppen immer weit heraus. Auch heute scharten sich die üblichen Massen vor Mozarts Geburtshaus, aber ich konnte mich an ihnen vorbeizwängen, ohne von einem Ellbogen gerammt zu werden.
    Ich teilte mir mit meiner Freundin Nele eine kleine Wohnung in der Goldgasse. Von dort war ich aufgebrochen, erreichte nun den Makartsteg und wechselte auf die andere Seite der Salzach, die bräunlichgrün unter mir rauschte. Wie gewöhnlich trug ich Noten unter meinem Arm geklemmt, und in Gedanken ging ich Beethovens Klaviersonate Opus 31, Nr. 2 in d-Moll durch, eines der Stücke, die ich bei meiner bald bevorstehenden Bakkalaureatsprüfung spielen würde. Wenn ich nur daran dachte, begann ich zu zittern, und meine Hände wurden feucht. Es tröstete mich nicht, dass Nele erst heute Morgen mit dem Brustton der Überzeugung verkündet hatte, das Ganze sei für mich doch kein Problem! Hatte ich nicht die ersten sieben Semester meines Klavierstudiums mühelos und fast immer mit besten Noten gemeistert? Hätte mich ein Professor wie Rudolph Wagner vor drei Jahren – damals war ich erst sechzehn – überhaupt als Schülerin akzeptiert, wenn er in mir nicht ein außergewöhnliches Talent gesehen hätte? Normalerweise unterrichtete er keine Studenten im Bakkalaureatsstudium, sondern nur angehende Magister, die nicht nur älter als ich waren, sondern auf ungleich mehr öffentliche Auftritte verweisen konnten.
    Dass er bei mir eine Ausnahme gemacht hatte, empfand ich jedoch nicht als Auszeichnung, sondern als Bürde. Ich spielte leidenschaftlich gern Klavier – vorausgesetzt, dass ich allein war. Sobald mir jemand zuhörte, saß mir die Angst zu versagen im Nacken. Diese Angst konnte mir weder Professor Wagner ausreden, der mir oft seufzend riet, mir ein etwas stabileres Nervenkostüm zuzulegen, und schon gar nicht Nele, die mir vorhielt, ich würde vor jeder Unterrichtsstunde ein Gesicht machen, als ginge ich zu meiner eigenen Hinrichtung. Was wusste sie schon! Schließlich war sie keine Musikerin, sondern studierte Psychologie. Im Übrigen tat sie das sehr nachlässig und – obwohl sie fast fünf Jahre älter war als ich – ohne klares Ziel: Mal wollte sie in der Werbebranche arbeiten, mal in die Wissenschaft, dann wieder stellte sie sich äußerst lebhaft vor, wie sie als Sozialarbeiterin drogensüchtigen Jugendlichen helfen würde, auf den rechten Weg zurückzufinden. Sie wusste nicht genau, was sie anstrebte – ich schon. Seit ich denken konnte, stand für mich fest, dass ich Pianistin werden wollte.
    Mein Einzelunterricht bei Professor Wagner war um drei Uhr nachmittags angesetzt; bis dahin waren noch zwei Stunden Zeit, in denen ich mich in einem der Überäume warmspielen konnte. In unserer kleinen Wohnung stand zwar auch ein Klavier, doch wenn es sich irgendwie einrichten ließ, übte ich am liebsten an einem der Bösendorfer- oder
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