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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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große Bühne. Jeder einzelne der sieben Podiumsauftritte, die ich im ersten Studienabschnitt hatte absolvieren müssen, war mit so viel durchwachten Nächten verbunden gewesen, dass ich hinterher jedes Mal verkündet hatte, das Studium hinzuschmeißen. Das hieß: Nele gegenüber deutete ich so etwas an, woraufhin sie mich für verrückt erklärte und mit dem Brustton der Überzeugung ausrief, dass niemand mit solcher Begeisterung und Hingabe Klavier spielen würde wie ich, also solle ich gefälligst dabei bleiben! Professor Wagner gegenüber traute ich mich dergleichen gar nicht erst zu erwähnen.
    »Wie wär’s? Haben Sie Zeit?«
    Sein Blick, eben noch kühl und hart, wurde werbend.
    Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Ehe ich auch nur einen Ton hervorgebracht hatte, kam Hanne auf mich zugestürzt. Ich hatte sie nicht in die Mensa kommen sehen, und als sie mich so heftig umarmte, als wären wir beste Freundinnen, zuckte ich innerlich zusammen. Sie hielt in der einen Hand eine halbvolle Saftflasche, doch die hielt sie nicht davon ab, mich erst auf die rechte, dann auf die linke Wange zu küssen.
    Ich ahnte, dass ihre überschwängliche Freude, mich zu treffen, nur vorgeschoben war, und ihre Aufmerksamkeit galt mir tatsächlich nicht lange.
    »Ich«, wandte sie sich grußlos an Nathanael. »Ich würde gerne mit dir spielen. Ich habe Klavier nur als Zweitfach, aber ich glaube, ich hätte Spaß daran.«
    ›Spaß‹ war für mich ein Begriff, der nicht zu Musik passte und schon gar nicht zu Nathanael Grigoris Cello-Spiel. Noch mehr irritierte mich, dass sie ihn einfach duzte. Zwar war das in Studentenkreisen üblich, aber in diesem Augenblick empfand ich es einfach nur als unhöflich. Und hatte sie sich gestern nicht erst darüber beschwert, dass Grigori ein »arroganter Typ« sei?
    Offenbar hatte sie ihre Meinung über Nacht geändert.
    Sein Blick wurde wieder kalt. »Wenn ich mit Ihnen spielen wollte, hätte ich Sie gefragt«, erklärte er knapp mit dieser rauchigen Stimme, deren Klang mich noch Stunden später verfolgen würde.
    Ich hörte Hanne scharf ausatmen, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Eben noch hatte ich nicht gewusst, wie ich auf sein Angebot reagieren sollte – nun stieg ein mir bisher unbekanntes Gefühl von Triumph in mir auf, das meine Ängste vorrübergehend verdrängte.
    Er wollte nicht mit Hanne spielen. Er wollte mit mir spielen.
    »Warum nicht?«, sagte ich. »Wir können es gerne versuchen.«
    Hanne schnaubte empört, aber Nathanael tat so, als hörte er sie nicht.
    »Morgen. Fünfzehn Uhr?«
    Noch während ich nickte, drehte er sich um und schlenderte so langsam aus der Mensa, wie er vorhin auf uns zugekommen war. Ich sah Hanne an, dass ihr eine wüste Beschimpfung auf den Lippen lag, doch Matthias kam ihr zuvor.
    Lautstark schlürfte er seinen Milchkaffee.
    »Kann man nicht trinken«, klagte er, obwohl er die Tasse bereits geleert hatte. »Viel zu süß dieses Gesöff.«

    Am nächsten Morgen war ich todmüde – und Nele genervt. Für gewöhnlich spielte ich in unserer gemeinsamen Wohnung nur bis zehn Uhr abends Klavier. Doch an diesem Abend konnte ich mich bis eins nicht von den Tasten losreißen, auch wenn das bedeutete, dass ich am nächsten Morgen Neles Nörgeln ertragen musste.
    »Was für eine Streberin du bist!«, schimpfte sie. »Wenn du dich schon jetzt wegen deiner Bakkalaureatsprüfung verrückt machst, wirst du die nächsten Wochen nicht überleben. Entspann dich doch mal!«
    Es war nicht zum ersten Mal, dass sie ungeduldig die Augen verdrehte, wenn ich stundenlang übte. Vor Freunden erklärte sie nicht selten, welche Zumutung es sei, mit einer angehenden Pianistin zusammenzuleben. Allerdings hatte ich sie nicht nur einmal dabei ertappt, wie sie vor der Tür meines Zimmers stand und meinem Spiel lauschte – manchmal so ergriffen, dass ihr Tränen in den Augen standen. Und als sich einmal eine Nachbarin über das andauernde Geklimper beschwert hatte, hatte sich Nele vor ihr aufgebaut und streng verkündet: »Geklimper! Pah! Sie müssen ja Tomaten auf den Ohren haben, wenn Sie sich davon belästigt fühlen! Sophie spielt einfach göttlich! Sie können froh sein, wenn Sie nichts fürs Zuhören bezahlen müssen!«
    Von göttlich war heute Morgen allerdings keine Rede, nur von ungesundem Ehrgeiz.
    Es lag mir auf zu der Zunge zu erklären, dass mein nächtliches Üben nichts mit meiner bevorstehenden Prüfung zu tun hatte, sondern mit dem bestaussehenden und
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