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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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aufgepasst.
    »Ach so … «, murmelte ich verlegen.
    »Bakkalaureat in zwei Monaten?«, fragte er unvermittelt.
    Ich nickte. »Ich sterbe, wenn ich nur daran denke«, brach es aus mir heraus.
    Ich bereute die Worte schon im nächsten Augenblick. Wie gedankenlos, wie vorschnell, wie unreif, das einfach so zuzugeben! Und außerdem – konnte irgendetwas, und sei es die Bakkalaureatsprüfung, die Nervosität, die mich in seiner Gegenwart befiel, noch übertreffen?
    Seine feinen, langen Finger strichen sanft über die Saiten, ohne einen Ton zu erzeugen. Wahrscheinlich bereut er es schon, dass er mich gefragt hat, mit ihm zu spielen, ging es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich sucht er gerade fieberhaft nach einer Ausrede …
    Doch stattdessen sagte er freundlich: »Musst du nicht. Vorher stellt man sich so eine Prüfung immer schlimmer vor, als sie dann tatsächlich ist. Wir können uns doch duzen, oder nicht? Und nenn mich Nathan, nicht Nathanael. Wer will sich schon die Mühe machen, einen so langen Namen auszusprechen?«
    Ich nickte wieder mit trockenem Mund, riss mich dann aber zusammen, und vor lauter Sorge, dass mir noch etwas Peinliches, Vorlautes herausrutschen könnte, verkündete ich relativ forsch: »Ich möchte Rachmaninow spielen.«
    Er deutete auf die Noten, die ich vor mir aufgeschlagen hatte. »Habe ich mir fast gedacht«, meinte er spöttisch.
    Ich blätterte vor zum ersten Satz. Meine Hände zitterten; erst als ich die Tasten berührte, ließ es etwas nach.
    Die ersten Takte der g-Moll-Sonate eigneten sich gut fürs erste Kennenlernen. Cello und Klavier scheinen sich vorsichtig aneinander heranzutasten, nicht sonderlich melodisch, nicht sonderlich schnell. Sie reizen tiefe und hohe Töne aus, aber wahren höfliche Distanz und reißen einander noch nicht mit. Ich atmete tief durch, versuchte meine Nervosität zu bezwingen, und zu meinem Erstaunen gelang das viel besser, als ich erwartet hatte. Schon nach wenigen Tönen waren meine Angst und Unsicherheit verflogen, meine Finger bewegten sich wie von selbst, die Selbstzweifel waren vergessen.
    Was dann folgte, ist schwer zu beschreiben. Natürlich kannte ich auch künstlerische Höhenflüge, wenn ich nicht nur allein, sondern mit anderen spielte, kannte den Rausch, die völlige Hingabe an den Wohlklang. Aber dieses Glücksgefühl musste ich mir immer erst erkämpfen – mit äußerster Konzentration, extremem körperlichen Einsatz und stetem Zweifel, ob ich die Erwartungen der anderen erfüllte.
    Mit Nathanael Grigori stellte es sich wie von selbst ein. Nein, ich war nicht perfekt – es gab Töne, die nicht saßen, und Tempi, die ich nicht hielt. Aber selbst diese Missgriffe – sie störten nicht. Sie kratzten nicht an seiner Leichtigkeit, die auf mich überging, an seiner Virtuosität, die mich einfach mitriss, ob ich nun wollte, ja konnte oder nicht. Ich hinkte seinem meisterhaften Spiel nicht hinterher – er trieb mich vielmehr an und schenkte mir das Gefühl, ihm ebenbürtig zu sein. Dass ich das nicht als anmaßend empfand, sondern zumindest in diesem Augenblick als tiefe Selbstverständlichkeit, zeigt, wie losgelöst, wie weggetreten ich war. Es fühlte sich an, als würde ich Flügel, die ich bislang nur halbherzig ausgestreckt hatte, in ihrer ganzen Breite öffnen, und sie trugen mich so mühelos, dass ich kein einziges Mal Angst haben musste, abzustürzen. Federleicht und befreit konnte ich mich in die Weite des Himmels aufschwingen und sämtliche Last abstreifen, die mich sonst zurückhielt.
    Stille senkte sich über uns, als wir den ersten Satz beendet hatten, Stille, die mir genauso fremd war wie diese unglaubliche Musik – so tief, so satt, so erfüllend, und zugleich so voller Sehnsucht, voller Drang, weiterzumachen, egal zu welchem Preis. Durch meine Adern schien kein Blut mehr zu rauschen, sondern pures Adrenalin.
    Ein Seufzen erklang, und erst nach einer Weile begriff ich, dass es aus meiner Kehle kam. Wie warm mir geworden war! Langsam drehte ich mich um. Nathanael saß so ruhig da wie vorhin, wirkte kein bisschen erschöpft und auch nicht so berauscht wie ich. Der Blick seiner blauen Augen war verschleiert – von Verwirrung und einer Traurigkeit, deren Ursache ich nicht verstand.
    »Das war unglaublich«, sagte ich. Meine Stimme klang schrill in meinen Ohren und erinnerte mich an die von Hanne, als sie Nathans Spiel als hervorragend bezeichnet hatte. Als Plattitüde war mir das erschienen – jetzt allerdings fiel mir selbst nichts
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