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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Schwiegertochter ist genauso. Sie werden es nicht glauben, wir haben auch keine Datscha, und zwar deshalb, weil wir uns nicht einmal für ein paar Tage trennen können. Ich kann keinen Augenblick ohne sie leben.
    Wenn Sie im Krieg gewesen wären, wüssten Sie, was das bedeutet – sich für einen Tag zu trennen. Nur für einen einzigen Tag ...«
    Maria Alexandrowna Arestowa , Lokführerin

Darüber, warum geschwiegen wird,
wenn man schon reden kann
    »Noch jetzt muss ich flüstern, wenn ich darüber rede. Nach vierzig Jahren ... Flüstern ...
    Ich hänge auf dem Balkon Wäsche auf. Da höre ich die Nachbarin rufen ... Mit ganz fremder Stimme ruft sie: ›Valja! Valja!‹ Ich renne runter. Auf dem Hof steht Iwan. Mein Mann ... Er ist zurück von der Front! Er lebt! Ich küsse ihn, berühre ihn. Streichle ihn. Umarme ihn. Aber er ... Er steht ganz steif da. Ich merke – er ist wie tot, irgendwie ganz erstarrt. Ich erschrecke: Wahrscheinlich eine Kopfverletzung? Halb so schlimm ... Ich pflege ihn schon gesund. Hauptsache, er ist wieder da. Das alles schießt mir in einer Sekunde durch den Kopf. In einer Sekunde.
    Die Nachbarn versammeln sich. Alle freuen sich. Aber er ist wie versteinert.
    Ich: ›Wanja, was ist los? Was ist mit dir?‹
    ›Komm mit ins Haus.‹
    Wir gehen hinein. Er setzt sich.
    ›Verstehst du ...‹ Er kann nicht weiterreden. Weint.
    Wir hatten eine Nacht ... Nur eine einzige Nacht ...
    Am nächsten Morgen holten sie ihn ab. Brachten ihn weg. Wie einen Verbrecher. Er wusste, dass sie ihn abholen würden. Sie hatten ihn schon in der Sonderabteilung verhört. Ihm die Schulterstücke abgerissen. Sie ahnen es natürlich schon? Er war in Gefangenschaft gewesen, war verwundet in Gefangenschaft geraten und hätte sich erschießen müssen. Ein sowjetischer Offizier ergibt sich nicht ... Das hatte Stalin gesagt ... Das wiederholten auch die Vernehmer. Er hätte sich erschießen müssen. Aber er konnte sich nicht erschießen, er war verwundet ... Er konnte nicht ... Er wollte es, das weiß ich ...
    Aus der Gefangenschaft floh er in den Wald. Zu den Partisanen. Zwei Jahre kämpfte er dort. Aber das wurde ihm nicht angerechnet, das wurde nicht einmal erwähnt.
    Wir hatten eine Nacht ... Nur eine einzige Nacht nach unserem Sieg ...
    Am Morgen holten sie ihn ab. Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Küche und wartete, dass unser Sohn aufwachte, er war damals neun. Ich wusste, er würde aufwachen und fragen: ›Wo ist Papa?‹ Was sollte ich ihm sagen? Und die Nachbarn ...
    Nach sieben Jahren kam mein Mann wieder. Mein Sohn und ich mussten vier Jahre warten, bis er aus dem Krieg heimkehrte, und noch einmal sieben Jahre, bis er aus dem Lager entlassen wurde. Elf Jahre Warten. Unser Sohn war inzwischen groß ...
    Ich habe flüstern gelernt. Flüsternd zu denken. Wo ist Ihr Mann? Wo ist dein Vater?
    Heute kann man das laut herausschreien. Man muss es herausschreien. Ich will es ... Aber ich habe trotzdem Angst ...«
    Valentina Jewdokimowna Michalzowa ,
    Partisanenverbindungsfrau

»Und sie legt die Hand dorthin,
wo das Herz ist ...«
    Dann endlich der Sieg.
    War die Welt früher geteilt in Frieden und Krieg, so war sie es nun in Krieg und Sieg. Das waren wieder zwei verschiedene Welten, zwei verschiedene Leben. Nachdem wir hassen gelernt hatten, mussten wir wieder lieben lernen. Uns wieder an vergessene Gefühle erinnern. An vergessene Worte.
    Der Mensch des Krieges musste ein Mensch des Nichtkrieges werden.

Darüber, wie widerwärtig es ist,
in den letzten Tagen des Krieges zu töten
    »Wir waren glücklich ...
    Wir überschritten die Grenze – die Heimat war befreit. Ich erkannte die Soldaten nicht wieder, sie waren plötzlich andere Menschen. Alle lächelten. Zogen sich saubere Hemden an. Sie trugen Blumen in der Hand – so glückliche Menschen habe ich später nie wieder gesehen. Ich dachte, wenn wir in Deutschland einmarschieren, dann würde ich mit niemandem Erbarmen haben. So viel Hass hatte sich in meiner Brust angesammelt! Warum sollte ich sein Kind verschonen, wenn er meins getötet hatte? Warum sollte ich seine Mutter verschonen, wenn er meine aufgehängt hatte? Warum sollte ich sein Haus nicht anrühren, wenn er meins verbrannt hatte? Warum? Warum? Ich wollte ihre Frauen sehen, ihre Mütter, die solche Söhne geboren hatten. Wie würden sie uns in die Augen sehen?
    Alles fiel mir wieder ein, und ich dachte: Was wird in uns vorgehen? In unseren Soldaten? Wir haben nichts vergessen ... Wir kamen in
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