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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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geschrieben. Alles, was wir über den Krieg wissen, wissen wir von »Männerstimmen«. Wir sind Gefangene der »männlichen« Vorstellungen und der »männlichen« Empfindungen. »Männlicher« Worte. Die Frauen aber schweigen. Denn niemand außer mir hat je meine Großmutter gefragt. Meine Mutter. Selbst diejenigen, die an der Front waren, schweigen. Und wenn sie einmal darüber reden, dann erzählen sie nicht ihren »weiblichen« Krieg, sondern den »männlichen«. Passen sich einer ihnen fremden Sprache an – dem festgeschriebenen männlichen Kanon. Nur zu Hause oder im Kreis ihrer Frontfreundinnen weinen sie und reden über ihren Krieg, der mir unbekannt ist. Nicht nur mir, sondern uns allen. Bei meinen Reisen als Journalistin war ich oft Ohrenzeugin, einzige Zuhörerin vollkommen neuer Texte. Ich erlebte eine Erschütterung wie in meiner Kindheit. In diesen Geschichten fletschte etwas Geheimnisvolles schaurig die Zähne ... Wenn die Frauen erzählen, finden wir nie oder fast nie, was wir sonst ohne Ende hören oder schon nicht mehr hören, sondern überhören: Wie die einen heroisch die anderen töteten und siegten. Oder unterlagen. Nichts über die Technik oder die Generäle. Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anderes. Der »weibliche« Krieg hat seine eigenen Farben und Gerüche, seine eigenen Empfindungen und seinen Raum für Gefühle. Seine eigenen Worte. Darin kommen keine Helden und keine ihrer unglaublichen Taten vor, sondern einfach Menschen, die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun. Und in diesen Geschichten leiden nicht nur sie (die Menschen), sondern auch die Erde, die Vögel und die Bäume. Die ganze irdische Welt. Leiden ohne Worte ...
    Aber warum?, habe ich mich oft gefragt. Warum haben die Frauen, die doch ihren Platz in einer ursprünglich absoluten Männerwelt behaupteten, ihre Geschichte nicht behauptet? Ihre Worte und ihre Gefühle? Sie haben sich selbst nicht vertraut. Sich nicht anvertraut. Eine ganze Welt blieb uns verborgen. Ein separater weiblicher Kontinent. Aber was hindert uns, dorthin vorzudringen? Sich dahin zu begeben und zuzuhören? Einerseits die undurchdringliche Mauer männlichen Widerstands, ich würde es sogar männliche Verschwörung nennen, und andererseits unser mangelnder Wille, unsere fehlende Neugier, die vielleicht daher rührt, dass niemand dort irgendwelche Entdeckungen erwartet. Nach dem Motto: Solange der Mensch existiert, führt er Kriege und erinnert sich daran. Wir glauben, wir wüssten alles über den Krieg. Doch wenn man den Frauen zuhört – Frauen vom Land und aus der Stadt, einfachen und gebildeten, Frauen, die Verwundete retteten, und Frauen, die schossen –, dann erkennt man, dass das nicht stimmt. Es ist ein großer Irrtum. Es gibt noch einen Krieg, den wir nicht kennen.
    Ich möchte die Geschichte dieses Krieges aufschreiben. Die weibliche Geschichte ...
    ***
    Nach den ersten Begegnungen – Erstaunen: Im Krieg waren diese Frauen Sanitätsinstrukteurinnen, Scharfschützinnen, MG-Schützinnen, Flak-Geschützführerinnen und Pioniere, und heute sind sie Buchhalterinnen, Laborantinnen, Stadtführerinnen, Lehrerinnen. Sie erzählen, als berichteten sie nicht von sich selbst, sondern von fremden Mädchen. Sie staunen heute selbst über sich. Und vor meinen Augen »vermenschlicht« sich Geschichte. Ich habe das Gefühl, wir reden miteinander gar nicht über den Krieg, sondern über das menschliche Leben. Wir machen uns Gedanken über den Menschen.
    Ich treffe erstaunliche Erzählerinnen, ihr Leben enthält Seiten, wie sie selbst bei meinem geliebten Dostojewski selten anzutreffen sind. Dort gerät der Mensch in einen gewaltigen Strudel und sieht sich selbst ganz klar, von oben – vom Himmel – und von unten – von der Erde. Erinnerungen sind weder leidenschaftliche noch sachliche Nacherzählung einer gewesenen und verschwundenen Realität, sie sind eine Wiedergeburt der Vergangenheit. Sie sind kreativ. Erzählend erschaffen die Menschen, »schreiben« sie ihr Leben. Manchmal schreiben sie auch etwas dazu oder um. Da muss man wachsam sein. Aufrichtig sind, wie ich bemerkt habe, einfache Menschen – Krankenschwestern, Köchinnen, Wäscherinnen. Sie holen die Worte aus sich selbst, nicht aus Zeitungen oder Büchern. Aus der Kultur. Sondern nur aus ihren eigenen Leiden. Gefühle und Sprache gebildeter Menschen unterliegen seltsamerweise meist mehr der Bearbeitung durch die Zeit. Durch deren übliche Codes. Sie sind infiziert mit
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