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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Das ist einfach Leben, voller Müll und nicht durch die Hand eines Künstlers gereinigt. Das Rohmaterial des Redens, das gibt es ganz unten zuhauf. Diese Ziegel liegen überall rum. Aber Ziegel sind doch noch kein Tempel?! Aber für mich ist das ganz anders ... Genau dort, in der menschlichen Stimme, in der lebendigen menschlichen Wiedergabe der Vergangenheit, liegt die ursprüngliche Freude verborgen und wird zugleich die Tragik des Lebens offenbar. Sein Chaos und seine Absurdität. Seine Einzigartigkeit und Unbegreiflichkeit. Dort sind sie noch unbearbeitet. Noch original.
    Ich baue Tempel aus unseren Gefühlen ... Aus unseren Wünschen, Enttäuschungen. Unseren Träumen. Aus dem, was war, uns aber entgleiten könnte.
    ***
    Noch einmal darüber ... Mich interessiert nicht nur jene Realität, die uns umgibt, sondern auch die in uns. Mich interessiert nicht das Ereignis selbst, sondern das Ereignis der Gefühle. Sagen wir – die Seele des Ereignisses. Für mich sind Gefühle Realität.
    Und die Geschichte? Sie ist auf der Straße ... in der Menge ... Ich glaube, dass in jedem von uns ein Stück Geschichte steckt. Bei dem einen eine halbe Seite, bei einem anderen zwei, drei Seiten. Alle zusammen schreiben wir am Buch der Zeit. Jeder schreit seine Wahrheit heraus. Und man muss das alles hören, darin aufgehen und das alles werden.
    ***
    Gestern ein Anruf: »Wir kennen uns nicht – aber ich komme von der Krim, ich rufe vom Bahnhof aus an. Ich möchte Ihnen meinen Krieg erzählen. Ich habe schon die Auszüge gelesen, die Sie veröffentlicht haben ...« Ach ja?
    Ich wollte eigentlich gerade mit meinem kleinen Mädchen in den Park, Karussell fahren. Wie soll ich einem sechsjährigen Menschlein erklären, woran ich arbeite? Vor kurzem hat sie mich gefragt: »Was ist Krieg?« Was soll ich da antworten ... Ich möchte sie mit einem mitfühlenden Herzen in die Welt entlassen und bringe ihr bei, dass man keine Blume einfach so abpflücken darf. Dass es nicht schön ist, einen Marienkäfer zu zerquetschen oder einer Libelle die Flügel auszureißen. Aber wie erklärt man einem Kind den Krieg? Wie antworten auf die Frage: Warum wird dort getötet? Werden sogar kleine Kinder getötet wie sie, obwohl sie gar nicht schießen? Wir Erwachsene haben quasi eine Verabredung. Wir wissen, worum es geht. Aber die Kinder? Nach dem Krieg haben meine Eltern mir das irgendwie erklärt, aber ich kann es meinem Kind schon nicht mehr erklären. Finde keine Worte. Der Krieg gefällt uns immer weniger, wir finden immer schwerer eine Rechtfertigung dafür. Für uns ist es einfach Mord. Für mich jedenfalls ist das so.
    Mein Buch über den Krieg möchte ich so schreiben, dass dem Leser übel wird davon, dass allein der Gedanke an den Krieg ihm grauenhaft erscheint. Irrsinnig. Dass selbst den Generälen übel wird ...
    Meine männlichen Freunde (im Gegensatz zu meinen Freundinnen) sind entsetzt von dieser »Frauenlogik«. Immer wieder kommen sie mir mit dem »Männerargument«: »Du warst nicht im Krieg.« Aber vielleicht ist das gerade gut, denn dadurch ist mir der leidenschaftliche Hass fremd, ich habe einen normalen Blick. Keinen »Kriegsblick« und keinen »männlichen«.
    In der Optik gibt es den Begriff »Lichtstärke« – die Fähigkeit eines Objektivs, die Abbildung mehr oder weniger gut zu fixieren. Das weibliche Gedächtnis hält den Krieg mit der größten »Lichtstärke« fest, mit den intensivsten Gefühlen, dem intensivsten Schmerz. Ich würde sogar sagen, dass der »weibliche« Krieg schlimmer ist als der »männliche«. Männer verstecken sich hinter der Geschichte, hinter Fakten; der Krieg fasziniert sie als Ereignis und als Kampf der Ideen und Interessen. Frauen dagegen sind von Gefühlen beherrscht. Und noch etwas: Männern wird von Kindheit an gesagt, dass sie eines Tages vielleicht schießen müssen. Frauen bringt man das nicht bei ... sie hatten nicht vor, diese Arbeit zu tun ... Und sie erinnern sich an anderes und anders. Sie können Dinge sehen, die den Männern verborgen sind. Ich muss es noch einmal wiederholen: Es ist eine andere Welt, anders als die der Männer. Mit Geruch, mit Farben, mit Alltagsdetails: »Wir bekamen Rucksäcke und nähten uns Röcke daraus«, »Im Wehrkommando ging ich zur einen Tür im Kleid rein, und aus der anderen kam ich heraus in Hose und Feldbluse, der Zopf war ab, ich hatte nur noch einen kurzen Schopf ...«. Mehrfach wurde ich gewarnt (besonders von männlichen Schriftstellern): »Die Frauen
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