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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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fremdem Wissen. Oft braucht es lange Anläufe, viele Kreise, um etwas über den »weiblichen« Krieg zu erfahren statt über den »männlichen«: Rückzug, Angriff, an welchem Frontabschnitt ... Dazu bedarf es mehr als einer einzigen Begegnung, dafür braucht man viele Sitzungen. Wie ein ausdauernder Porträtmaler.
    Ich sitze lange in einem fremden Zuhause, manchmal den ganzen Tag. Wir trinken Tee, probieren neu gekaufte Blusen an, reden über Frisuren und Kochrezepte. Sehen uns zusammen die Fotos der Enkel an. Nach einer gewissen Zeit, man weiß nie, wann es so weit ist und warum, kommt endlich der ersehnte Augenblick, da der Mensch sich löst vom gängigen Kanon aus Gips und Stahlbeton – wie unsere Denkmäler – und zu sich kommt, in sich geht. Dann erzählt er nicht so sehr vom Krieg, sondern von seiner Jugend. Von einem Stück seines Lebens – diesen Augenblick gilt es abzupassen. Oft bleibt nach einem langen Tag voller Worte und Fakten nur ein einziger Satz zurück (aber was für einer!): »Ich war noch so klein, als ich an die Front ging, dass ich im Krieg sogar noch gewachsen bin.« Diesen Satz halte ich dann in meinem Notizbuch fest, obgleich ich Dutzende Meter Tonbandaufzeichnungen besitze, vier, fünf Kassetten voll.
    Was hilft mir? Mir hilft, dass wir gewohnt sind, in der Gemeinschaft zu leben. Wir sind Gemeinschaftsmenschen. Alles geschieht bei uns öffentlich – Glück ebenso wie Tränen. Wir haben die Fähigkeit zu leiden und über das Leiden zu sprechen. Schmerz ist für uns Kunst. Ich muss sagen, die Frauen machen sich unerschrocken auf diesen Weg.
    ***
    Wie begegnen sie mir?
    Sie nennen mich »Mädchen«, »Töchterchen«, »Kindchen« – gehörte ich ihrer Generation an, würden sie sich mir gegenüber wahrscheinlich anders verhalten. Strenger und nüchterner. Ohne die Freude, die eine Begegnung zwischen Alt und Jung häufig birgt. Es spielt eine große Rolle, dass sie damals jung waren und sich heute als alte Menschen erinnern. Nach einem ganzen Leben – nach vierzig Jahren. Behutsam öffnen sie mir ihre Welt, um mich zu schonen. »Gleich nach dem Krieg habe ich geheiratet. Ich habe mich hinter meinem Mann versteckt. Hinter dem Haushalt, den Windeln. Gern habe ich mich dahinter versteckt. Meine Mutter bat mich: ›Sei still! Sei still! Bekenne dich nicht dazu!‹ Ich habe meine Pflicht der Heimat gegenüber erfüllt, aber es macht mich traurig, dass ich dort gewesen bin. Dass ich das alles weiß ... Aber du bist noch ein halbes Kind. Du tust mir leid ...« Oft sitzen die Frauen mir gegenüber und hören in sich hinein. Lauschen auf die Stimme ihrer Seele, vergleichen sie mit ihren Worten. Im Alter begreift der Mensch, dass das Leben vorbei ist, dass es Zeit ist, sich zu fügen und sich auf den Abschied vorzubereiten. Und er will nicht einfach so verschwinden. Unbeachtet. Beiläufig. Und wenn er zurückblickt, will er nicht nur erzählen, dann will er auch zum Geheimnis seines Lebens vordringen. Selbst die Antwort finden auf die Frage: Warum hat er das alles erlebt? Er betrachtet alles mit einem traurigen, einem Abschiedsblick. Er hat keinen Grund mehr, sich und andere zu belügen. Er weiß schon, dass man ohne den Gedanken an den Tod nichts im Menschen verstehen kann. Sein Geheimnis steht über allem.
    Der Krieg ist ein äußerst intimes Erlebnis. Und so endlos wie das menschliche Leben.
    Einmal weigerte sich eine Frau (eine Fliegerin), sich mit mir zu treffen. Sie erklärte mir am Telefon: »Ich kann nicht. Ich will mich nicht daran erinnern. Drei Jahre im Krieg – ich war drei Jahre lang keine Frau. Mein Organismus war tot. Ich hatte keine Menstruation, kein weibliches Verlangen. Dabei war ich schön. Als mein künftiger Mann mir einen Heiratsantrag machte, das war schon in Berlin. Vor dem Reichstag. Er sagte: ›Der Krieg ist aus. Wir sind am Leben. Heirate mich.‹ Da wollte ich weinen. Schreien. Ihn schlagen! Wie – heiraten? Jetzt heiraten? Sieh mich doch an – wie sehe ich denn aus? Mach erst einmal eine Frau aus mir: Schenk mir Blumen, bemüh dich um mich, sag mir schöne Worte. Das wünsche ich mir so sehr! Ich hätte ihn beinahe geschlagen ... Ich wollte ihn schlagen. Aber seine eine Wange war purpurrot, verbrannt, und ich sah: Er hat alles verstanden, ihm laufen Tränen über die Wange – über die noch frischen Narben ... Ich traute meinen eigenen Ohren nicht, als ich sagte: ›Ja, ich heirate dich.‹
    Verzeihen Sie mir ... Ich kann nicht.«
    Ich verstand sie. Doch auch dies
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