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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Nicht wie unsere Eltern, sondern wie die Welt. Ganz zu schweigen von ihren Enkeln.
    Aber ich liebe sie. Bewundere sie. Ja, sie hatten den Gulag, aber auch den Sieg. Und das ist ihnen bewusst.
    Vor kurzem bekam ich einen Brief:
    »Meine Tochter liebt mich sehr, für sie bin ich eine Heldin, wenn sie Ihr Buch liest, wird sie sehr enttäuscht sein. Schmutz, Läuse, endlos viel Blut – das alles ist wahr. Das bestreite ich nicht. Aber können die Erinnerungen daran etwa edle Gefühle wecken? Zu Heldentaten erziehen ...«
    Ich habe oft erfahren:
    ... unser Gedächtnis ist bei weitem kein ideales Instrument. Es ist nicht nur willkürlich und launisch, es liegt obendrein an der Kette der Zeit.
    ...wir betrachten die Vergangenheit von heute aus, wir können sie nicht von Nirgendwo betrachten.
    ... und sie sind verliebt in das, was mit ihnen geschehen ist, denn es war nicht nur Krieg, es war auch ihre Jugend. Ihre erste Liebe.
    ***
    Ich höre zu, wenn sie reden ... Ich höre zu, wenn sie schweigen ... Beides, die Worte und das Schweigen, ist für mich Text.
    »Das ist nicht zum Drucken, nur für dich ... Diejenigen, die älter waren ... Sie saßen traurig im Zug. Nachdenklich. Ich erinnere mich, wie ein Major eines Nachts, als alle schliefen, mit mir über Stalin sprach. Er hatte stark getrunken und war mutig, er bekannte, dass sein Vater schon zehn Jahre im Lager sitze, ohne Recht auf Briefkontakt. Ob er noch lebe oder nicht, wisse er nicht. Dieser Major sagte etwas Schreckliches: ›Ich will die Heimat verteidigen, aber Stalin, diesen Verräter der Revolution, will ich nicht verteidigen.‹ Solche Worte hatte ich noch nie gehört ... Ich war erschrocken. Zum Glück war er am Morgen verschwunden. Wahrscheinlich ausgestiegen ...«
    »Ich erzähle dir mal was, ganz unter uns ... Ich war mit Oxana befreundet, sie kam aus der Ukraine. Von ihr hörte ich zum ersten Mal von dem schrecklichen Hunger in der Ukraine, dem Holodomor. Man konnte keinen Frosch und keine Maus mehr fangen – alles aufgegessen. In ihrem Dorf ist die Hälfte der Menschen gestorben. Alle ihre jüngeren Brüder sind gestorben, auch ihre Mutter und ihr Vater, und sie hat sich gerettet, indem sie nachts im Pferdestall des Kolchos Pferdeäpfel stahl und sie aß. Keiner konnte die essen, aber sie hat es getan: ›Warm kriegt man die nicht runter, aber kalt geht’s. Am besten gefroren, dann riechen sie nach Heu.‹ Ich sagte: ›Oxana, Genosse Stalin kämpft. Er vernichtet die Schädlinge, aber es sind viele.‹ ›Nein‹, antwortete sie, ›du bist dumm. Mein Vater war Geschichtslehrer, er hat gesagt: Eines Tages wird sich Genosse Stalin für seine Verbrechen verantworten müssen ...‹
    In der Nacht lag ich da und dachte: Vielleicht ist Oxana ja ein Feind? Eine Spionin? Was tun? Zwei Tage später ist sie im Gefecht gefallen. Sie hatte keine Angehörigen mehr, an die man die Todesnachricht hätte schicken können ...«
    Dieses Thema berühren sie selten und vorsichtig. Sie sind noch immer gelähmt von der stalinschen Hypnose und der Angst, aber auch durch ihren einstigen Glauben. Durch sein bis heute nicht erloschenes Feuer. Wenn ich direkte Fragen stelle, bekomme ich zur Antwort: »Vielleicht werden unsere Enkel einmal die ganze Wahrheit erfahren.«
    Wann werden sie endlich anfangen zu reden? In zehn, zwanzig Jahren?! Dafür müssten sie sich von der Liebe zu vielem in ihrem Leben lösen.
    ***
    Das Manuskript liegt auf dem Tisch.
    Seit zwei Jahren bekomme ich Ablehnungen von Verlagen. Schweigen die Zeitschriften. In den Ablehnungen immer das Gleiche: ein zu schrecklicher Krieg. Zu viel Grauen. Naturalismus. Es fehlt die führende und richtungweisende Rolle der kommunistischen Partei. Kurz: der falsche Krieg ... Wie ist er denn – der richtige? Mit Generälen und dem weisen Generalissimus? Ohne Blut und Läuse? Mit Helden und Heldentaten. Ich aber erinnere mich seit meiner Kindheit: Ich gehe mit meiner Großmutter an einem großen Feld entlang, und sie weint. »Nach dem Krieg ist auf diesem Feld lange nichts gewachsen. Die Deutschen waren auf dem Rückzug ... Und hier wurde gekämpft, zwei Tage lang ... Die Toten lagen dicht an dicht, wie die Garben. Wie Schwellen auf einer Bahnstation. Deutsche und unsere. Nach einem Regen hatten sie alle verweinte Gesichter. Einen Monat lang hat das ganze Dorf sie begraben.«
    Wie kann ich dieses Feld vergessen?
    Ich schreibe nicht nur auf, ich sammle, suche den menschlichen Geist dort, wo das Leiden aus dem kleinen
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