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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Wäsche, ganz viel, und dann wasche ich den ganzen Tag. Damit ich irgendwie beschäftigt bin, ich muss mich den ganzen Tag irgendwie ablenken. Und wenn wir uns treffen, reichen die Taschentücher nicht – so sind unsere Fronttreffen. Ein Meer von Tränen ... Läden mit Kriegsspielzeug ... Mit Flugzeugen, Panzern ... Wer hat sich das ausgedacht? Da dreht sich mir das Herz im Leibe um ... Ich habe nie einem Kind Kriegsspielzeug gekauft oder geschenkt. Meinen eigenen nicht und fremden auch nicht. Einmal brachte jemand ein Militärflugzeug und eine Plastik- MP ins Haus. Ich habe beides sofort auf den Müll geworfen ... Das menschliche Leben ist doch ein solches Geschenk ... Ein großes Geschenk ...
    Wissen Sie, was wir alle im Krieg dachten? Wir träumten: ›Ach, Kinder, das möchte ich noch erleben ... Nach dem Krieg werden die Menschen so glücklich sein! Dann bricht ein glückliches, schönes Leben an. Die Menschen, die so viel durchgemacht haben, werden Mitgefühl füreinander haben. Liebe. Das werden andere Menschen sein.‹
    Aber es hat sich nichts geändert. Nichts. Die Menschen hassen einander immer noch und töten sich gegenseitig. Das ist das Unbegreiflichste für mich, mein Brillantstück ...
    Bei Stalingrad ... Die allerschlimmsten Kämpfe. Ich schleppe zwei Verwundete. Schleppe den einen ein Stück, lasse ihn liegen und hole den anderen. So schleppe ich sie abwechselnd, denn sie sind beide schwer verwundet, ich darf sie nicht liegen lassen, bei beiden – wie soll ich das möglichst einfach erklären, ohne Fachbegriffe – bei beiden sind die Beine sehr weit oben abgetrennt, sie sind am Verbluten. Da ist jede Minute kostbar, jede Minute. Plötzlich, ich bin schon ein Stück weiter weg vom Schlachtfeld, der Rauch lichtet sich, da sehe ich: Ich schleppe einen russischen Panzersoldaten und einen Deutschen ... Ich war entsetzt: Dort sterben unsere Männer, und ich rette einen Deutschen. Ich geriet in Panik ... Im dichten Rauch hatte ich das nicht gleich bemerkt ... Ich sah nur: Der Mann stirbt, er schreit vor Schmerzen ... A-a-a ... Sie waren beide schwarz, verbrannt ... Trugen nur noch Lumpen am Leib. Einer wie der andere. Und dann sah ich: Ein fremdes Medaillon, eine fremde Uhr, alles fremd. Was tun? Ich schleppte unseren Verwundeten und dachte: Soll ich zurückgehen und den Deutschen holen oder nicht? Es war nicht mehr weit, und ich wusste: Wenn ich ihn liegen lasse, stirbt er in ein paar Stunden. An Blutverlust ... Ich kroch zu ihm. Ich schleppte beide weiter. Um ihr Leben zu retten.
    Das war wie gesagt Stalingrad ... Die schlimmsten Tage des Krieges ... Aber ich konnte trotzdem nicht töten. Einen Menschen einfach sterben lassen ... Mein Brillantstück du ... Man kann nicht ein Herz für den Hass haben und eins für die Liebe. Der Mensch hat nur ein Herz, und ich dachte immer daran, mein Herz zu bewahren.
    Nach dem Krieg hatte ich lange Angst vor dem Himmel, ich wagte nicht einmal, zum Himmel aufzuschauen. Ich hatte Angst vor dem Anblick umgepflügter Erde ... Aber die Dohlen, die spazierten bereits seelenruhig darüber ... Die Vögel vergaßen den Krieg schnell ...«

Über die Autorin/Übersetzerin
    Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen »Roman in Stimmen«. Ihre Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, darunter 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
    Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, war Lektorin für russische Literatur beim Verlag Volk und Welt und ist seit 1991 freiberufliche literarische Übersetzerin u.a. der Werke von Ljudmila Ulitzkaja, Daniil Granin, Julia Kissina, Boris Akunin und Polina Daschkowa.

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