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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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schossen. Aber ich nahm die Pistole und stellte mich damit auf die Straße, Autos anhalten. Dabei fluchte ich zum ersten Mal. Wie ein Mann. Saftig, dreistöckig ... Alle fuhren vorbei. Ich schoss das erste Mal. In die Luft ... Ich wusste, allein bekamen wir die Verwundeten nicht weg. Wir konnten sie nicht tragen. Sie bettelten: ›Kinder, schießt uns tot. Lasst uns nicht so liegen.‹ Der zweite Schuss ... Er durchschlug die Karosserie ... ›Dumme Kuh! Lern erst mal schießen!‹ Aber sie hielten ... Halfen die Verwundeten verladen.
    Doch das Schlimmste hatte ich noch vor mir – das Schlimmste war Stalingrad ... Das Schlachtfeld, das war die Stadt – Straßen, Häuser, Keller. Hol da mal einen Verwundeten raus! Mein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck. Und meine Hose voller Blut. Von oben bis unten. Der Hauptfeldwebel schimpfte: ›Mädels, ich hab keine Hosen mehr, ihr braucht gar nicht darum zu bitten.‹ Wenn die Hosen trockneten, dann standen sie, so steif kriegt man sie mit keiner Stärke, man konnte sich richtig dran schneiden. Da war kein sauberer Fleck mehr, die konnten wir beim Wäschetausch im Frühjahr wegwerfen. Alles brannte, auf der Wolga zum Beispiel brannte sogar das Wasser. Selbst im Winter fror sie nicht zu, weil sie brannte. Alles brannte ... In Stalingrad gab es kein Gramm Erde mehr, das nicht mit menschlichem Blut getränkt war. Mit russischem und deutschem Blut ...
    Wir bekamen Verstärkung. Junge, hübsche Burschen. Nach ein, zwei Tagen waren sie alle tot, kein Einziger mehr übrig. Ich begann, mich vor Neuen zu fürchten. Ich fürchtete, sie mir einzuprägen, ihre Gesichter, ihre Gespräche. Denn kaum waren sie angekommen, waren sie auch schon tot. Zwei, drei Tage ... Das war ja zweiundvierzig, die schwerste, die schlimmste Zeit. Einmal waren von dreihundert Leuten am Abend noch zehn übrig. Als alles still war, küssten wir uns und weinten, weil wir noch am Leben waren. Wir waren wie eine Familie.
    Wenn vor deinen Augen ein Mensch stirbt ... Und du weißt, du siehst, du kannst ihm nicht helfen, er hat nur noch Minuten. Du küsst ihn, streichelst ihn, sagst ihm zärtliche Worte. Nimmst Abschied von ihm. Mehr kannst du nicht für ihn tun ... An diese Gesichter erinnere ich mich noch heute. Ich sehe sie vor mir – alle, alle unsere Jungs. So viele Jahre sind vergangen, aber ich kann keinen vergessen, nicht ein einziges Gesicht. Keinen einzigen, ich erinnere mich an alle, sehe sie alle vor mir ... Wir wollten sie selbst begraben, eigenhändig, aber das ging nicht immer. Wir waren auf dem Rückzug, und sie blieben. Es kam vor, dass man jemandem den Kopf verband, und er starb dir unter den Binden. Und wurde mit verbundenem Kopf begraben. Wer auf dem Schlachtfeld starb, blickte wenigstens in den Himmel. Oder er bat im Sterben: ›Schließ mir die Augen, Schwester, aber vorsichtig.‹ Die Stadt war zerstört, die Häuser – das war natürlich schlimm. Aber wenn da Menschen liegen, junge Männer ... Du kommst nicht zum Verschnaufen, du rennst ... Du meinst, du hast keine Kraft mehr, länger als fünf Minuten hältst du nicht mehr durch. Du rennst weiter ... März, das erste Wasser unter den Füßen ... Da durfte man keine Filzstiefel mehr anziehen, aber ich tat es doch und lief los. Den ganzen Tag kroch ich rum, und am Abend waren sie so nass, dass ich sie nicht ausziehen konnte. Ich musste sie aufschneiden. Aber ich wurde nicht krank ... Ist das zu glauben, mein Brillantstück?
    Als in Stalingrad die Kämpfe vorbei waren, bekamen wir den Auftrag, die am schwersten Verwundeten mit Dampfern und Kähnen nach Kasan und nach Gorki zu bringen. Das war schon im Frühling, im März, April. Aber wir fanden noch viele Verwundete, sie lagen in der Erde, in Schützengräben, in Erdhütten, in Kellern – es waren so viele, das kann ich gar nicht erzählen. Das war schrecklich! Wenn wir die Verwundeten vom Schlachtfeld holten, dachten wir immer, dass keine mehr übrig waren, dass wir alle weggeschafft hatten, dass es in Stalingrad keine mehr gab, aber als alles vorbei war, da waren es noch so viele, dass wir es nicht glauben konnten ... Auf dem Schiff, mit dem ich fuhr, waren Leute versammelt, denen Arme oder Beine fehlten, und Hunderte Tuberkulosekranke. Wir mussten sie behandeln, sie mit zärtlichen Worten beruhigen, mit einem Lächeln trösten. Als sie uns losschickten, die Verwundeten zu begleiten, erklärten sie, nun könnten wir mal ausruhen von der Schlacht, das sei wie eine Art
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