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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Auszeichnung. Aber bald stellte sich heraus, dass das noch schlimmer war als die Hölle von Stalingrad. Dort holte man einen Menschen vom Schlachtfeld, versorgte ihn, übergab ihn und war sicher: Jetzt ist alles gut, er wird weggebracht. Und dann kroch man los, den Nächsten holen. Hier aber hast du sie die ganze Zeit vor Augen ... Dort wollten sie leben, kämpften um ihr Leben: ›Schnell, Schwester! Schnell, meine Liebe!‹ Hier aber weigerten sie sich zu essen, wollten sterben. Sie versuchten, sich vom Schiff zu stürzen. Wir mussten sie bewachen. Ich saß nächtelang bei einem Hauptmann – er hatte keine Arme mehr und wollte sich umbringen. Einmal hatte ich eine andere Schwester nicht gewarnt, ging ein paar Minuten weg, und er warf sich über Bord ...
    Wir brachten sie nach Ussolje, das liegt in der Nähe von Perm. Dort standen schon neue, saubere Häuser, extra für sie. Wie ein Pionierlager ... Sie lagen auf unseren Tragen und schnappten mit den Zähnen nach der Erde. Ich glaube, ich hätte jeden von ihnen zum Mann genommen. Hätte ihn auf Händen getragen. Wir fuhren mit dem Dampfer zurück, leer, wir hätten uns ausruhen können, aber wir schliefen nicht. Die Mädchen lagen eine Weile da, dann heulten sie los. Wir setzten uns jeden Tag hin und schrieben Briefe. Wir teilten uns auf, wer wem schrieb. Drei, vier Briefe am Tag ...
    Und noch ein kleines Detail. Nach dieser Fahrt schützte ich im Gefecht immer meine Beine und mein Gesicht. Ich hatte schöne Beine, und ich fürchtete, dass sie verkrüppelt werden könnten. Und mein Gesicht ... Ja, so ein kleines Detail ...
    Nach dem Krieg wurde ich mehrere Jahre den Geruch von Blut nicht los, er verfolgte mich noch lange. Ich roch es beim Wäschewaschen, beim Essenkochen ... Einmal schenkte mir jemand eine rote Bluse, das war damals eine Rarität, es gab nicht genug Stoff, aber ich konnte sie nicht anziehen, weil sie rot war. Diese Farbe konnte ich nicht ertragen. Ich konnte nicht einkaufen gehen. In Fleischwarenabteilungen. Besonders im Sommer ... Auch Hühnerfleisch konnte ich nicht sehen ... Verstehst du ... Es ist sehr ähnlich ... Genauso weiß wie Menschenfleisch ... Einkaufen ging immer mein Mann. Im Sommer konnte ich überhaupt nicht in der Stadt bleiben, ich sah immer zu, dass ich irgendwie verreiste. Sobald Sommer war, dachte ich immer, gleich ist Krieg. Wenn die Sonne alles erwärmte – Bäume, Häuser, Asphalt –, das alles hatte einen eigenen Geruch, und für mich roch es nach Blut. Egal, was ich aß oder trank, ich wurde diesen Geruch nicht los! Selbst wenn ich das Bett frisch bezog, roch die Bettwäsche für mich nach Blut ...
    Die Tage im Mai fünfundvierzig ... Ich erinnere mich, wir haben uns viel gegenseitig fotografiert. Wir waren sehr glücklich ... Am neunten Mai schrien alle: ›Sieg! Sieg!‹ Wir konnten es nicht glauben. Was würden wir jetzt tun?
    Wir schossen ... Jeder mit dem, was er gerade hatte ...
    ›Sofort das Schießen einstellen!‹, befahl der Kommandeur.
    ›Wir haben doch sowieso noch Patronen übrig. Wozu?‹, fragten wir verständnislos.
    Egal, wer was sagte, ich hörte nur ein Wort: Sieg! Und auf einmal wollte ich schrecklich gern leben! Wie gut wir jetzt leben würden! Ich legte alle meine Auszeichnungen an und bat jemanden, mich zu fotografieren. Ich wollte gern inmitten von Blumen fotografiert werden. In einer Blumenrabatte.
    Der siebte Juni war für mich ein glücklicher Tag, da war meine Hochzeit. Unsere Einheit richtete uns ein großes Fest aus. Ich kannte meinen Mann schon lange, er war Hauptmann, befehligte eine Kompanie. Wir hatten uns geschworen, wenn wir am Leben bleiben, wollten wir heiraten. Wir bekamen einen Monat Urlaub ...
    Wir fuhren nach Kineschma, das liegt im Gebiet Iwanowo, zu seinen Eltern. Ich fühlte mich als Heldin, ich hätte nie gedacht, dass man ein Frontmädchen so empfangen würde. Wir hatten so viel durchgemacht, so vielen Müttern das Kind gerettet, so vielen Frauen den Ehemann. Und plötzlich ... Ich erfuhr Beleidigungen, kränkende Worte. Bis dahin kannte ich nichts anderes als ›Schwester, liebe‹, ›Schwesterchen, meine Gute‹. Und ich war nicht hässlich, ich war hübsch ... Ich hatte eine neue Uniform bekommen ...
    Am Abend setzten wir uns zum Tee, und die Mutter ging mit ihrem Sohn in die Küche und weinte. ›Wen hast du da nur geheiratet? Ein Frontmädchen ... Du hast doch zwei jüngere Schwestern. Wer wird die jetzt zur Frau nehmen?‹ Noch heute, wenn ich daran denke, könnte
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