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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ich weinen. Stellen Sie sich vor: Ich hatte eine Schallplatte mitgebracht, die liebte ich sehr. Da hieß es: ›Mit vollem Recht stehn sie dir zu, die allerschicksten neuen Schuh ...‹ Ein Lied über ein Frontmädchen. Ich legte die Platte auf, die Ältere der beiden Schwestern nahm sie herunter und zerbrach sie vor meinen Augen, als wollte sie sagen: Gar nichts steht euch zu. Sie haben alle meine Frontfotos vernichtet ... Ach, du mein Brillantstück, dafür gibt es keine Worte ... Ich habe keine Worte ...
    Lebensmittel gab es damals auf Marken, auf Karten. Mein Mann und ich legten unsere Marken zusammen und fuhren einkaufen. Wir kamen an, das war ein spezielles Lager, da stand schon eine Schlange, und wir stellten uns an. Als ich dran war, sprang der Mann, der hinterm Ladentisch stand, plötzlich über die Theke – fiel mir um den Hals, küsste mich und schrie: ›Leute! Leute! Ich hab sie gefunden. Das ist sie. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen, sie unbedingt finden. Leute, sie hat mich gerettet!‹ Mein Mann stand daneben. Das war ein Verwundeter, ich hatte ihn aus dem Gefecht geholt. Im Kugelhagel. Er erinnerte sich noch an mich, aber ich? Wie sollte ich mich an alle erinnern, es waren so viele! Ein andermal traf ich auf dem Bahnhof einen Invaliden. ›Schwester!‹ Er erkannte mich. Er weinte. ›Ich dachte immer, wenn ich dich treffe, dann knie ich vor dir nieder ...‹ Aber er hat nur noch ein Bein ...
    Wir haben einiges durchgemacht, wir Frontmädchen. Auch nach dem Krieg; nach dem Krieg hatten wir noch einen Krieg. Und der war auch schlimm. Die Männer ließen uns irgendwie im Stich. Sie beschützten uns nicht. An der Front war das anders. Du kriechst übers Schlachtfeld, da kommt ein Splitter geflogen oder eine Kugel ... Die Jungs passen auf ... Einer ruft: ›Hinlegen, Schwester!‹, und lässt sich auf dich fallen, um dich zu schützen. Und die Kugel trifft ihn ... Er ist tot oder verwundet. Drei Mal wurde ich so gerettet.
    Aus Kineschma kehrten wir zurück zu unserer Einheit. Als wir ankamen, erfuhren wir, dass die Einheit nicht aufgelöst wird – wir sollten Minen von den Feldern räumen. Die Bauern brauchten Ackerland. Für alle war der Krieg aus, für die Pioniere aber ging er noch weiter. Dabei wussten die Mütter doch schon vom Sieg ... Das Gras stand ganz hoch, alles war im Krieg verwildert, wir schlugen uns mit Mühe durch, und überall lagen Minen und Bomben. Aber die Menschen brauchten den Boden, und wir beeilten uns. Jeden Tag starben Kameraden. Jeden Tag nach dem Krieg mussten wir jemanden begraben ... So viele Menschen haben wir dort verloren, auf den Feldern ... So viele ... Manchmal, wir hatten den Acker schon an den Kolchos übergeben, der Traktor fuhr aufs Feld, aber irgendwo lag noch eine versteckte Mine, es gab auch Panzerminen, dann flog der Traktor in die Luft und der Traktorist auch. Und es gab doch nicht viele Traktoren. Und auch nicht mehr so viele Männer. Diese Tränen in einem Dorf nach dem Krieg ... Die Frauen heulten ... Die Kinder heulten ... Ich erinnere mich, einer von unseren Soldaten ... Bei Staraja Russa, das Dorf weiß ich nicht mehr, er stammte selbst von dort, er ging seinen Kolchos entminen, sein Feld, und starb dort. Dort hat ihn das Dorf begraben. Er hatte den ganzen Krieg mitgemacht, vier Jahre, und dann starb er nach dem Krieg in seiner Heimat, auf seinem Feld ...
    Wenn ich davon erzähle, werde ich ganz krank. Ich erzähle, und innerlich bin ich wie aus Gelee, alles zittert. Ich sehe wieder alles vor mir: Die Toten, wie sie da liegen – ihre Münder sind offen, sie haben geschrien und sind mitten im Schrei verstummt, die Gedärme hängen raus. Ich hab in meinem Leben mehr Tote gesehen als Brennholz ... So viel Schreckliches! Ganz schlimm ist es im Nahkampf, wo die Menschen mit Bajonetten aufeinander losgehen ... Mit blankem Bajonett. Man fängt an zu stottern, ein paar Tage kriegt man kein Wort richtig raus. Man verliert die Sprache. Wer versteht das schon, wer nie dort war? Und wie soll man das erzählen? Mit welchen Worten? Mit was für einem Gesicht? Andere können das irgendwie ... Sind dazu fähig ... Ich nicht. Ich weine. Aber man muss es erzählen, man muss, damit das bleibt. Man muss es weitergeben. Irgendwo auf der Welt muss unser Schrei erhalten bleiben ... Unsere Klage ... Unser Atem ...
    Ich warte immer auf unseren Festtag. Den Tag des Sieges ... Ich warte auf diesen Tag und fürchte ihn. Ein paar Wochen lang sammle ich absichtlich schmutzige
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