Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
spät von der Arbeit kam, empfing ich ihn: ›Warum kommst du so spät? Dima hat ständig gefragt: Wo ist mein Papa?‹
    Er war ja in den sechs Jahren Krieg (er war schon im Japanischen Krieg gewesen) auch von seinem Sohn entwöhnt. Von seinem Zuhause.
    Wenn ich etwas für den Sohn kaufte, dann sagte ich: ›Das hat Papa gekauft, er denkt an dich ...‹
    Irgendwann haben sie sich dann angefreundet ...«
    Nadeshda Wikentjewna Chatschenko ,
    Untergrundkämpferin
    »Meine Lebensgeschichte ...
    Ich habe seit neunzehnhundertneunundzwanzig bei der Eisenbahn gearbeitet. Als Beimann auf einer Lok. Lokführerinnen gab es damals in der ganzen Sowjetunion noch nicht. Aber das war mein Traum. Der Leiter des Depots schüttelte nur den Kopf. ›Nein, dieses Mädchen – will unbedingt einen Männerberuf erlernen!‹ Aber ich setzte mich durch. Einunddreißig wurde ich die Erste ... Die erste Lokführerin. Sie werden es nicht glauben, aber wenn ich die Lok fuhr, dann versammelten sich an der Bahnstation die Leute. ›Ein Mädchen fährt die Lok!‹
    Unsere Lok war gerade zur Durchsicht, also zur Reparatur. Mein Mann und ich fuhren immer abwechselnd, denn wir hatten schon ein Kind, deshalb richteten wir uns das so ein: Wenn er fuhr, blieb ich beim Kind, wenn ich fuhr, war er zu Hause. An dem Tag war mein Mann gerade von der Arbeit gekommen und ich hätte fahren müssen. Am Morgen wachte ich auf und hörte, dass auf der Straße etwas anders war als sonst, es war so laut. Ich schaltete das Radio ein: ›Krieg!‹
    Ich lief zu meinem Mann.
    ›Ljonja, steh auf! Es ist Krieg! Steh auf, es ist Krieg!‹
    Er rannte ins Depot und kam weinend zurück.
    ›Es ist Krieg! Krieg! Weißt du, was das heißt – Krieg?‹
    Was tun? Wohin mit dem Kind?
    Ich wurde mit unserem Sohn nach Uljanowsk evakuiert, ins Hinterland. Wir bekamen eine Zweizimmerwohnung, eine schöne Wohnung, so eine habe ich jetzt nicht. Mein Sohn ging in den Kindergarten. Alles war gut. Alle mochten mich. Kein Wunder! Eine Lokführerin, noch dazu die Allererste! Sie werden es nicht glauben, aber ich blieb dort nicht lange, nicht mal ein halbes Jahr. Ich hielt es nicht mehr aus: Alle verteidigten die Heimat, und ich saß zu Hause!
    Mein Mann kam und fragte: ›Was ist, Marussja, bleibst du im Hinterland sitzen?‹
    ›Nein‹, sagte ich, ›ich komme mit.‹
    Zu der Zeit wurde gerade eine Sonderkolonne für die Versorgung der Front zusammengestellt. Mein Mann und ich meldeten uns. Mein Mann als erster Lokführer, ich als zweiter. Vier Jahre fuhren wir im Güterwaggon herum, unser Sohn immer mit. Er hat im ganzen Krieg nicht einmal eine Katze zu sehen gekriegt. Als er in der Nähe von Kiew eine Katze gefangen hatte, wurde unser Zug heftig bombardiert, fünf Flugzeuge griffen uns an, und er hielt die Katze im Arm und redete auf sie ein. ›Mein liebes Kätzchen, wie schön, dass ich dich getroffen habe. Ich bin immer ganz allein, na komm, bleib bei mir. Lass dich küssen.‹ Er war ein Kind. Ein Kind muss haben, was ein Kind braucht. Beim Einschlafen sagte er: ›Mama, wir haben eine Katze. Jetzt haben wir ein richtiges Zuhause.‹ Sie werden es nicht glauben ...
    Wir wurden dauernd bombardiert, mit MGs beschossen. Dabei zielten sie natürlich immer auf die Lok, um den Lokführer zu töten und die Lok zu zerstören. Die Flugzeuge gingen ganz tief runter und schossen auf den Güterwaggon und auf die Lok, und im Güterwaggon saß mein Sohn. Am meisten Angst hatte ich um ihn. Sie werden es nicht glauben, bei Bombenangriffen holte ich ihn aus dem Waggon zu mir auf die Lok. Ich drückte ihn ganz fest an mich. ›Wenn schon getötet werden, dann zusammen, vom selben Splitter.‹ Aber wie soll das gehen? Darum sind wir wohl am Leben geblieben.
    Die Lok ist mein Leben, meine Jugend, das Schönste in meinem Leben. Ich würde noch heute gern fahren, aber sie lassen mich nicht mehr – zu alt ...
    Es ist schrecklich, im Krieg ein Kind zu haben. So dumm ... Und jetzt ... Ich lebe bei der Familie meines Sohnes. Er ist Arzt, leitet eine Station. Unsere Wohnung ist nicht groß. Aber ich fahre nie in Urlaub oder ins Sanatorium. Sie werden es nicht glauben: Ich mag mich nicht von meinem Sohn und den Enkeln trennen. Nicht einmal für einen Tag. Auch mein Sohn verreist nie. Er arbeitet seit bald zwanzig Jahren, aber er war im Urlaub noch nie verreist. Seine Kollegen wundern sich alle, dass er noch nie um einen Urlaubsplatz gebeten hat. ›Ich bleibe lieber bei dir, Mama‹, sagt er. Meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher