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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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Es war ein Maler...
    der hatte, nachdem er von der Kunstschule mit einem Diplompapier und vielen guten Worten entlassen worden war, ein ganzes Jahr an seinem ersten Bild gemalt. Darüber war ihm der Bart so lang gewachsen, daß er ihn zu einem Zopf flechten konnte, und die Haare fielen ihm bis auf die Schultern. An einem sonnigen Sommermorgen legte der Maler Pinsel und Palette beiseite, wusch sich die Hände und knipste die Kaffeemaschine an. Dann ließ er sich in seinen durchgesessenen Korbstuhl fallen und besah das Bild. Es zeigte einen rosaroten Morgen, der über einer unendlich grünen Wiese emporstieg. Im Vordergrund war die rissige Borke eines umgestürzten Baumes zu sehen. Im Hintergrund schienen Himmel, Wald und Wiese ineinanderzufließen. Ein sanfter Nebel hing über der Landschaft, und es war, als sei in diesem Bild ein stilles Rätsel verborgen.
    So und nicht anders habe ich den Morgen vor unserer Stadt erlebt, dachte der Maler, wickelte den Bartzopf um den Zeigefinger und lehnte sich im Korbstuhl zurück. Natürlich könnte man fragen: War die Wiese wirklich so grün? War der Baum nicht schärfer gebrochen? Und was hat es auf sich mit dem Himmelwaldwiesengefließe? - Ich hab’s so gesehen und hab’s so empfunden, und deshalb habe ich’s so gemalt. Was macht es da schon, daß ich monatelang nicht in der Disko war, daß mir drei hübsche Mädchen davonliefen, daß mein Magen nur noch Tütensuppen verträgt und ich noch immer die zerschlissenen Jeans aus der Studentenzeit anhabe?
    Gerade als der Kaffee in die Kanne gesprudelt war, klingelte es an der Wohnungstür. Der Besucher war ein Kollege, mit dem der Maler gemeinsam auf einer Studentenstube gewohnt hatte.
    „O Mann, ist das ein phantastisches Bild!“ rief der Gast überschwenglich, nahm ungebeten und ungezwungen am Frühstückstisch Platz und goß sich eine Tasse von dem frischgefilterten Kaffee ein. „Überhaupt trifft sich das gut. Wie du gewiß gehört hast, soll es im Rathaus eine Ausstellung geben. Ich würde der Jury gern vorschlagen, dein Bild dort zu zeigen, nur...“
    „Nur?“ fragte der Maler arglos.
    „Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Aber wenn du mich schon um einen kollegialen Hinweis bittest“, sagte der Mann und zog die Mundwinkel herab, „mir fehlt etwas Lebendiges in dem Bild. Wäre dieser Mangel behoben, würde ich gern ein gutes Wort für dich verwenden.“
    „Aber ich malte die Landschaft, wie ich sie erlebte.“ „Laß dir die Sache durch den Kopf gehen. Vielleicht schaue ich morgen noch einmal vorbei.“ Und als der Kollege schon auf dem Weg zur Tür war, wiederholte er: „Ansonsten, das will ich noch einmal betonen, ist dein Bild wirklich sehr, sehr gut.“
    Verstört nippte der Maler an seinem Kaffee. Insgeheim zweifelte er, ob der andere das Gemälde mit seinem stillen Rätsel wohl verstanden habe. Doch dann kamen ihm Zweifel anderer Art. Sollte man für den wohlgemeinten Rat eines Kollegen nicht ein offenes Ohr haben? Wenn das Bild ausgestellt würde, wäre das ein feiner Lohn für die Mühen. Viele Leute würden es sehen und davon reden. Was zählte da eine Änderung? Er machte sich zögernd an die Arbeit und malte, weil ihm nach angestrengtem Hin-und-her-Überlegen nichts Passenderes für eine unendlich grüne Wiese einfiel, eine scheckige Kuh mit prallgefülltem Euter seitlich in die Natur hinein.
    Als er das erledigt hatte, besah er das Bild lange, wobei er sich unbehaglich fühlte, so daß er den obersten Knopf seines Hemdes öffnen mußte.
    Mit zwölf Schlägen läutete die Rathausuhr die Mittagsstunde ein. Der Maler stellte einen vorbereiteten Topf Kartoffelsuppe auf die Kochplatte. Kaum daß die Suppe heiß war, klingelte es erneut an der Wohnungstür. Der Besucher war ein kahlköpfiger Kunst-An-und-Verkäufer.
    „Oh, was sehe ich, ein neues Gemälde?“ sagte der Kunsthändler, füllte sich eine ordentliche Kelle Suppe auf den Teller und biß einen kräftigen Happen von der Bockwurst ab. „Mir scheint, ich könnte dieses Bild für gutes Geld ver-kaufen“, erklärte er mit vollem Mund. „Nur - Bilder mit Kühen allein sind derzeit nicht gefragt. Wie dir sicher geläufig ist, gilt unser Interesse dem Menschen. Ja, wäre ein werktätiger Mensch bei dem Tier, hätte ich sofort einen Kunden.“ ,,Das Bild ist fertig, es bleibt, wie es ist.“
    „Überleg dir die Sache, ich habe morgen in der Gegend zu tun und komme gern noch einmal her.“
    Der Maler löffelte ein Suppenrestchen aus dem Topf
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