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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Schluß der Geschichte, die manchmal mit dem Tod Roberts des Heiligen endete, der ein frommer Mönch geworden war, und manchmal mit seiner Krönung zum König, weil sich herausstellte, daß er der Sohn Richards des Normannen war, eines der zwölf Pairs von Frankreich. Er erinnerte sich, daß ihm João Abade an jenem Nachmittag – oder Abend? – für die Geschichte gedankt hatte. Aber wann war das gewesen, in welchem Moment? Bevor die Soldaten kamen, als alles noch ruhig war und Belo Monte der Ort fürs Leben zu sein schien? Oder als das Leben begann, Tod, Hunger, Zerfall, Angst zu werden?
    »Wann war das, Jurema?« fragte er heftig, ohne zu wissen, warum es so unaufschiebbar dringend war, den Zeitpunkt genau zu fixieren. »Kurzsichtiger, war es am Anfang oder am Ende der Vorstellung?«
    »Was hat er?« hörte er eine der Sardelinhas sagen.
    »Fieber«, antwortete Jurema, die ihn in die Arme nahm.
    »Wann war das«, sagte der Zwerg. »Wann?«»Er deliriert«, hörte er den Kurzsichtigen sagen und spürte, wie er ihm die Stirn befühlte, ihm über Haar und Rücken strich.
    Er hörte ihn zwei-, dreimal niesen, wie immer, wenn ihn etwas überraschte, belustigte oder erschreckte. Jetzt durfte er niesen. In der Fluchtnacht hatte er nicht geniest, in jener Nacht, in der ein Niesen sie alle das Leben gekostet hätte. Er stellte sich den Kurzsichtigen im Zirkus bei einer Vorstellung fürs Volk vor, zwanzig-, fünfzigmal hintereinander niesend in allen Registern und Tonlagen, wie die Bärtige, wenn sie in der Nummer mit den Clowns furzte: hoch, tief, lang, kurz, und hatte Lust, lauthals zu lachen. Aber er hatte keine Kraft mehr.
    »Er ist eingeschlafen«, hörte er Jurema sagen, die seinen Kopf zwischen ihre Beine bettete. »Morgen ist es wieder gut.«
    Er schlief nicht. Zusammengerollt in der dunklen Höhle, tief unten in dieser zwiespältigen Wirklichkeit aus Feuer und Eis, die sein Körper war, hörte er den Bericht des Antônio Fogueteiro, wiederholte noch einmal, sah dieses Ende der Welt, das er in der Vorstellung vorweggenommen hatte und kannte, auch ohne daß der aus Asche und Leichen wiederauferstandene Feuerwerker es ihm erzählte. Und obwohl er sich so schlecht fühlte und der Schüttelfrost ihn peinigte und ihm die Menschen so fern schienen, die neben ihm sprachen in dieser Nacht des Sertäo von Bahia, in dieser Welt, in der es nun kein Canudos und keine Jagunços mehr gab und bald auch keine Soldaten mehr geben würde, wenn sie nach Erfüllung ihrer Mission abgezogen und dieses Land zurückkehren würde in die uralte, stolze und elende Einsamkeit – hatte ihn der Bericht des Feuerwerkers interessiert und beeindruckt und erstaunt.
    »Man kann sagen, daß du wiederauferstanden bist«, hörte er Honório sagen, denjenigen der zwei Vilanova, der so selten sprach, daß er sein Bruder zu sein schien, wenn er es tat.
    »Das kann man«, erwiderte der Feuerwerker. »Aber ich war nicht tot. Nicht einmal von einer Kugel verwundet. Ich weiß es nicht, nicht einmal das weiß ich. Ich hatte kein Blut mehr im Körper. Vielleicht ist mir ein Stein auf den Kopf gefallen. Aber es tat mir auch nichts weh.«
    »Du bist ohnmächtig geworden«, sagte Antõnio Vilanova.
    »Wie auch andere in Belo Monte ohnmächtig wurden. Sie hielten dich für tot und das hat dich gerettet.«»Das hat mich gerettet«, wiederholte der Feuerwerker. »Aber nicht nur das. Denn als ich aufwachte und mich unter all den Toten liegen sah, sah ich auch, daß die Gottlosen herumgingen und die Gefallenen, die sich noch rührten, mit dem Bajonett oder mit Schüssen erledigten. Sie gingen an mir vorüber, viele, und keiner bückte sich zu mir, um nachzusehen, ob ich tot war.«
    »Das heißt, du hast dich einen ganzen Tag lang totgestellt«, sagte Antônio Vilanova.
    »Und dabei gehört, wie sie herumgingen, die Verwundeten erschlugen, die Gefangenen niederstachen und die letzten Mauern sprengten«, sagte der Feuerwerker. »Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Hunde, die Ratten, die Aasgeier. Sie fraßen die Toten. Ich hörte sie scharren, beißen, hacken. Die Tiere irren sich nicht. Sie wissen, wer tot ist und wer nicht. Die Geier, die Ratten fressen nichts Lebendes. Angst hatte ich vor den Hunden. Und das war das Wunder: auch die Hunde ließen mich in Ruhe.«
    »Du hast Glück gehabt«, sagte Antônio Vilanova. »Und was willst du jetzt machen?«
    »Zurückgehen nach Mirandela«, sagte der Feuerwerker. »Da bin ich geboren, da bin ich
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