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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hätte, nicht identifizieren könnte. Und selbst wenn er unversehrt geblieben wäre: wie sollte er ihn erkennen? Hat er ihn je gesehen? Die Beschreibungen, die er von ihm hat, reichen nicht aus. Es ist töricht, klar. Er denkt: Klar. Aber es ist stärker als die Vernunft, es ist dieser dunkle Instinkt, der ihm in der Vergangenheit so oft zugute gekommen ist, dieses Gespür, das ihn plötzlich veranlaßte, seine Mobile Einheit zwei oder drei Tage lang in unbegreiflichen Eilmärschen in ein Dorf zu hetzen, in dem sie dann tatsächlich die Banditen überraschten, die sie seit Wochen oder seit Monaten vergeblich gesucht hatten. So ist es auch jetzt. Nase und Mund unter dem Taschentuch, mit der anderen Hand die Fliegenschwärme verscheuchend, sich manchmal mit Fußtritten der Ratten erwehrend, die seine Beine hochklettern, wühlt Oberst Geraldo Macedo weiter unter den Leichen, weil etwas ihm gegen alle Logik sagt, daß er nur das Gesicht, den Körper, ja die blanken Knochen João Abades vorsich zu haben braucht, um sofort zu wissen, daß es die seinen sind.
    »Exzellenz, Exzellenz!« Es ist Leutnant Soares, sein Adjutant, der, ebenfalls ein Taschentuch vor dem Gesicht, zu ihm kommt.
    »Haben sie ihn gefunden?« begeistert sich Oberst Macedo.
    »Noch nicht, Exzellenz. General Oscar sagt, Sie sollten hier weggehen, weil die Schanzarbeiter gleich anfangen zu demolieren.«
    »Demolieren?« Deprimiert blickt Oberst Macedo um sich. »Ist hier noch etwas zu demolieren?«
    »Der General hat versprochen, daß kein Stein auf dem andern bleiben wird«, sagt Leutnant Soares. »Er hat befohlen, alle nicht eingestürzten Mauern zu sprengen.«
    »So eine Verschwendung«, murmelt der Oberst. Er hat den Mund unter dem Taschentuch halb offen, und wie immer, wenn er nachdenkt, leckt er an seinem Goldzahn. Bedauernd überblickt er die weite, mit Trümmern, Unrat und Aas übersäte Fläche. Schließlich zuckt er die Achseln. »Gut, gehen wir also, ohne zu wissen, ob er umgekommen oder entwischt ist.«
    Immer noch mit zugehaltenen Nasen treten er und sein Adjutant den Rückweg zum Lager an. Bald darauf dröhnen in seinem Rücken die ersten Detonationen.
    »Darf ich Sie etwas fragen, Exzellenz?« sagt, näselnd unter dem Taschentuch, Leutnant Soares. Oberst Macedo nickt. »Weshalb liegt Ihnen so viel an der Leiche von João Abade?«
    »Das ist eine alte Geschichte«, brummt der Oberst. Auch seine Stimme klingt nasal. Seine kleinen schwarzen Augen gleiten suchend dahin und dorthin. »Eine Geschichte, die anscheinend ich angefangen habe. So sagt man wenigstens. Weil ich vor mindestens dreizehn Jahren in Custodia den Vater von João Abade getötet habe. Er war ein Komplize von Antônio Silvina. Und danach, schön ...« Er sieht zu seinem Adjutanten hinüber und fühlt sich plötzlich alt. »Wie alt sind Sie?«
    »Zweiundzwanzig, Exzellenz.«
    »Da können Sie natürlich nicht wissen, wer João Abade war«, brummt der Oberst.
    »Der militärische Chef von Canudos, ein gewissenloser Schurke«, erwidert Leutnant Soares.»Ein gewissenloser Schurke«, pflichtet Oberst Macedo bei.
    »Der schlimmste in ganz Bahia. Der, der mir immer entwischt ist. Zehn Jahre lang war ich hinter ihm her. Mehrere Male hatte ich ihn beinahe gefaßt. Immer ist er mir durch die Lappen gegangen. Es hieß, er hätte einen Pakt geschlossen. Satanás nannten sie ihn damals.«
    »Jetzt begreife ich, warum Sie ihn finden wollen«, lächelt Leutnant Soares. »Um sich zu versichern, daß er Ihnen diesmal nicht entkommen ist.«
    »Eigentlich weiß ich nicht, warum«, brummt Oberst Macedo achselzuckend. »Vielleicht, weil er mich an meine Jugend erinnert. Räuber zu jagen war besser als dieser Stumpfsinn hier.«
    Eine Reihe von Detonationen donnern auf, und Oberst Macedo kann sehen, daß von den Hängen und Gipfeln der Berge Tausende von Menschen zusehen, wie die letzten Mauern von Canudos durch die Luft fliegen. Ihn interessiert dieses Schauspiel nicht, er dreht sich nicht einmal danach um; er geht weiter, auf das Lager des Freiwilligenbataillons von Bahia zu, das unterhalb der Favela liegt, unmittelbar hinter den Schützengräbern am Vaza Barris.
    »Es ist wahr, es gibt Dinge, die einem nicht in den Schädel wollen, auch wenn er groß ist«, sagt er und spuckt den bitteren Geschmack aus, den der vergebliche Erkundungsgang in ihm zurückgelassen hat. »Erst der Befehl, Häuser zu zählen, die keine Häuser mehr sind, sondern Ruinen. Und jetzt der Befehl, Backsteine und Lehmziegel zu
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