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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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wenn die erstickende Schwüle nachläßt und ein leichter Wind aufkommt, der den Leuten neuen Mut gibt, Krankheit und Hunger und die Leiden des Lebens zu ertragen.
    Er sprach von einfachen und wichtigen Dingen, und dabei sah er niemand im besondern an, sah vielmehr mit seinen glühenden Augen durch den Kreis der Alten, Frauen und Kinder hindurch etwas oder jemand an, den nur er sehen konnte. Er sprach von Dingen, die sie verstanden, weil sie allen seit undenklichen Zeiten dunkel bewußt waren, weil jeder sie mit der Muttermilch eingesaugt hatte. Aktuelle, greifbare, alltägliche, unausweichliche Dinge wie das Ende der Welt, das Letzte Gericht, die eintreffen konnten, ehe das Dorf endlich die verfallene Kapelle wiederaufgebaut hatte. Was würde geschehen, wenn der gute Jesus sah, wie sie sein Haus ohne alle Pflege gelassen hatten? Was würde er über das Vorgehen jener Priester sagen, die den Armen die Taschen leerten für die Dienstleistungen der Religion, statt ihnen zu helfen? Durfte man die Worte Gottes verkaufen, mußte man sie nicht umsonst geben? Mit welchen Entschuldigungen würden die Väter zu unser aller Vater kommen, die Unzucht trieben, obwohl sie Keuschheit gelobt hatten? Würden sie Den anlügen können, der Gedanken las wie der Spurenleser die Schritte des Jaguars auf der Erde? Von praktischen, alltäglichen, vertrauten Dingen sprach er, etwa dem Tod, der zur Glückseligkeit führt, wenn man mit reiner Seele wie zu einem Fest in ihn eingeht. Waren die Menschen Tiere? Wenn sie es nicht waren, mußten sie geschmückt mit ihren besten Kleidern durch diese Tür gehen zum Zeichen ihrer Verehrung für Den, dem sie dort begegnen würden. Er sprach ihnen vom Himmel und auch von der Hölle, der Wohnstatt Satans, die mit glühenden Kohlen und Klapperschlangen gepflastert war, und wie sich der Teufel in scheinbar harmlosen Neuerungen kundtun konnte.
    Die Viehtreiber und die Feldarbeiter aus dem Landesinneren hörten ihm schweigend zu, betroffen, erschrocken, aufgewühlt, und so lauschten ihm auch die Sklaven und die Freigelassenen aus den Zuckerfabriken an der Küste und die Frauen und die Väter und die Söhne der einen und der anderen. Manchmal –aber selten, weil sein Ernst, seine tiefe Stimme oder seine Weisheit sie einschüchterten – unterbrach ihn jemand, um einen Zweifel loszuwerden. Würde die Welt untergehen? Würde sie im Jahr 1900 noch bestehen? Er antwortete, ohne hinzusehen, mit ruhiger Sicherheit, häufig in Rätseln. Im Jahr 1900 würden die Lichter ausgehen und es würde Sterne regnen. Aber zuvor würden sich außergewöhnliche Dinge ereignen. Ein Schweigen folgte seinen Worten, in dem das Knistern des Feuers und das Sirren der in den Flammen verbrennenden Insekten zu hören waren, während die Dorfleute mit angehaltenem Atem im voraus ihr Gedächtnis anstrengten, um sich der Zukunft zu erinnern. 1896 würden tausend Herden vom Meer in den Sertão laufen, und das Meer würde Sertão und der Sertão Meer werden. 1897 würde sich die Wüste mit Gras bedecken, Hirten und Herden würden zusammenströmen, und von da an würde es nur noch eine Herde und einen Hirten geben. 1898 würden die Hüte zunehmen und die Köpfe abnehmen und 1899 die Flüsse rot werden und ein neuer Planet den Raum durchqueren.
    Man mußte sich also vorbereiten. Man mußte die Kirche instand setzen und den Friedhof, das wichtigste Bauwerk nach dem Haus des Herrn, da er Vorzimmer des Himmels oder der Hölle war, und die verbleibende Zeit mußte man auf das Wesentliche verwenden: die Seele. Würden die Männer oder die Frauen etwa in Röcken und feinen Kleidern ins Jenseits aufbrechen, in Filzhüten, Hanfschuhen und all dem Luxus aus Wolle und Seide, den der gute Jesus nie getragen hatte?
    Es waren praktische, einfache Ratschläge. Wenn der Mann ging, wurde von ihm gesprochen: es hieß, er sei heilig, er habe Wunder gewirkt, er habe wie Moses den brennenden Dornbusch gesehen, und eine Stimme habe ihm den unaussprechlichen Namen Gottes offenbart. Auch über seine Ratschläge wurde geredet. So vernahmen sie die Leute von Tucano, Soure, Amparo und Pombal, noch ehe das Kaiserreich zu Ende ging und die Republik begann, und Monat um Monat, Jahr um Jahr erstanden die Kirchen von Bom Conselho, von Jeremoabo, von Massacará und von Inhambupe aus ihren Ruinen, und nach seinen Anweisungen wurden auf den Friedhöfen von Monte Santo, Entre Rios, Abadia und Barracão Mauern und Grabnischen errichtet, und in Itapicurú, Cumbe, Natuba, Mocambo
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