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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Antônio, der damals fünf war, wurde von dem zweiten Schuster im Pombal adoptiert, dem Einäugigen – er hatte bei einem Streit ein Auge verloren –, der sein Handwerk in der Werkstatt von Tiburcio da Mota gelernt und, nach Pombal zurückgekehrt, dessen Kundschaft übernommen hatte. Ein mürrischer Mann, der häufig betrunken war und meistens, nach Zuckerrohrschnaps stinkend, auf der Straße erwachte. Er hatte keine Frau und ließ Antônio wie ein Lasttier schuften: er mußte kehren, aufwischen, Nägel, Scheren, Sättel, Stiefel zureichen oder in die Lohgerberei laufen. Schlafen ließ er ihn auf einem Fell neben dem kleinen Tisch, an dem er alle die Stunden verbrachte, die er nicht mit seinen Saufbrüdern in der Kneipe saß.
    Der Waisenknabe, klein und fügsam, war nichts als Haut und Knochen und zwei verschreckte Augen, die den Frauen von Pombal Mitleid einflößten. Sooft sie konnten, gaben sie ihm etwas zu essen oder Kleider, die sie ihren eigenen Kindern nicht mehr anzogen. Eines Tages gingen sie – ein halbes Dutzend Frauen, die die Gelähmte gekannt und bei unzähligen Taufen, Firmungen, Totenwachen und Hochzeiten an ihrer Seite geklatscht hatten – in die Werkstatt des Einäugigen und verlangten von ihm, er solle Antônio zum Katechismus schicken, damit er auf die Erstkommunion vorbereitet würde. Mit der Drohung, Gott würde ihn zur Rechenschaft ziehen, wenn das Kind ohne Kommunion stürbe, erschreckten sie den Schuster so, daß er sich zähneknirschend bereit erklärte, ihn jeden Abend vor dem Vesperläuten in den Unterricht der Mission gehen zu lassen.
    Nun geschah etwas Bemerkenswertes im Leben des Kindes, das später infolge des Wandels, den der Unterricht bei den Lazaristen in ihm bewirkte, Beatinho gerufen wurde. Der Einäugigeerzählte, er habe ihn nachts viele Male im Dunkeln auf den Knien liegend angetroffen, weinend über die Leiden Christi und so vertieft, daß er ihn nur durch Schütteln wieder in die Wirklichkeit habe zurückbringen können. In anderen Nächten hörte er ihn im Traum erregt vom Verrat des Judas, von der Reue der Magdalena, von der Dornenkrone sprechen, und eines Nachts vernahm er, wie er, gleich dem heiligen Franziskus an seinem elften Geburtstag, das Gelübde immerwährender Keuschheit ablegte.
    Antônio hatte eine Aufgabe gefunden, der er sein Leben widmen konnte. Er fuhr fort, die Aufträge des Einäugigen unterwürfig auszuführen, aber während er sie verrichtete, hatte er die Augen halb geschlossen und bewegte die Lippen, so daß alle verstanden, daß er, auch wenn er kehrte oder zum Gerber lief oder die Sohle hielt, in Wirklichkeit betete. Die Haltung des Knaben störte und erschreckte den Adoptivvater. In der Ecke, wo er schlief, errichtete der Beatinho mit Heiligenbildern, die er in der Mission geschenkt bekam, und einem Kreuz aus Xique-Xique-Holz, das er selbst schnitzte und bemalte, einen Altar. Dort zündete er eine Kerze an, um zu beten, wenn er aufstand und wenn er sich schlafen legte, und dort verbrachte er kniend, mit gefalteten Händen und dem Ausdruck tiefster Reue, seine freien Augenblicke, statt wie die übrigen Jungen auf die Pferdeweiden zu rennen, ungesattelte Wildlinge zu reiten, Tauben zu jagen oder beim Kastrieren der Stiere zuzuschauen.
    Seit seiner Erstkommunion war er Chorknabe Dom Casimiros, und als dieser starb, half er den Lazaristen in der Mission bei der Messe, obwohl er dazu, hin und zurück, eine Stunde zu gehen hatte. Bei Prozessionen schwang er die Weihrauchfässer und half beim Schmücken der Stationen und Altäre an den Straßenecken, an denen die Jungfrau und der gute Jesus anhielten, um auszuruhen. Die Frömmigkeit des Beatinho war so groß wie seine Güte. Für die Einwohner vom Pombal war es ein gewohntes Schauspiel, ihn den Blinden führen zu sehen. Manchmal begleitete er ihn bis zu den Pferdekoppeln von »Oberst« Ferreira, nach denen Adolfo sich sehnte, weil er auf ihnen gearbeitet hatte, bis er den Tränenfluß bekam. Er führte ihn am Arm, quer über die Felder, mit einem Stock in derHand, um die Erde nach Schlangen abzutasten, und hörte sich geduldig seine Geschichten an. Und für den aussätzigen Simon, der wie ein wildes Tier lebte, seit ihm die Dorfbewohner verboten hatten, Pombal nahe zu kommen, sammelte er Essen und Kleider. Einmal die Woche brachte er ihm in einem Bündel die Brotkrumen, das Dörrfleisch und die Hülsenfrüchte, die er für ihn zusammengebettelt hatte, und von ferne sahen die Dorfleute, wie er den
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