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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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seine Existenz verschrieben.
    Da ihm seine zersetzenden Ideen das Leben in Schottland schwermachten, ließ sich sein Vater im Süden Frankreichs nieder, wo er 1868 verhaftet wurde, weil er die Leineweber von Bordeaux bei einem Streik unterstützt hatte. Er wurde nach Cayenne geschickt, und dort starb er. Ein Jahr darauf kam Galileo, der Beihilfe zur Brandstiftung in einer Kirche angeklagt, ins Gefängnis – nach dem Militär und den Bankiers galt den Geistlichen sein größter Haß –, aber nach wenigen Wochen entfloh er und arbeitete bei einem Pariser Arzt, einem alten Freund seines Vaters. In dieser Zeit legte er sich den Namen Galileo Gall zu, da sein eigener der Polizei allzu bekannt war, und begann, kleine politische und populärwissenschaftliche Aufsätze in einer Lyoner Zeitung, L’Etincelle de la révolte , zu veröffentlichen.
    Er war stolz darauf, von März bis Mai 1871 mit den Pariser Kommunarden für die Freiheit des Menschengeschlechts gekämpft zu haben und Zeuge des Genozids an dreißigtausend von den Truppen Thiers niedergemetzelten Menschen, Männern, Frauen und Kindern, geworden zu sein. Auch er wurde zum Tode verurteilt, doch konnte er vor der Hinrichtung, in der Uniform eines Wachsoldaten, den er tötete, aus der Kaserne entkommen. Er ging nach Barcelona, studierte dort ein paar Jahre lang Medizin und praktizierte Phrenologie mit Mariano Cubí, einem Gelehrten, der sich rühmte, er brauche nur mit den Fingerspitzen über den Schädel eines Menschen zu fahren, um dessen geheimste Neigungen und Charakterzüge aufzuspüren. Er sollte eben als Arzt zugelassen werden, als seine Liebe für Freiheit und Fortschritt oder seine Berufung zum Abenteuer abermals Bewegung in sein Leben brachte. Mit einer kleinen Schar von Verfechtern der großen Idee überfiel er eines Nachts die Kaserne von Montjuich, um den Sturm zu entfesseln, der, wie sie glaubten, die Grundfesten Spaniens erschüttern werde. Aber jemand hatte sie verpfiffen, und die Soldaten empfingensie mit Schüssen. Einen um den andern sah er seine Gefährten im Kampf fallen; als sie ihn festnahmen, hatte er mehrere Wunden. Er wurde zum Tode verurteilt, aber da ein Verwundeter nach spanischem Gesetz nicht hingerichtet werden darf, beschlossen sie ihn zu heilen, ehe sie ihn umbrachten. Einflußreiche Freunde ermöglichten ihm die Flucht aus dem Spital und schifften ihn mit falschen Papieren auf einem Frachtdampfer ein.
    Stets treu den Ideen seiner Kindheit, war er durch Länder und Kontinente gereist. Er hatte gelbe, schwarze, rote und weiße Schädel betastet, stand je nach den Umständen in der politischen Aktion oder in der wissenschaftlichen Praxis, und im Lauf dieses mit Abenteuern, Gefängnissen, Handstreichen, heimlichen Versammlungen, Flucht und Fehlschlägen angefüllten Lebens hatte er eine Reihe von Heften vollgeschrieben, in denen er anhand von Beispielen die Richtigkeit der Lehren seines Vaters, Proudhons, Galls, Bakunins, Spurzheims und Cubís nachwies. In der Türkei, in Ägypten, in den Vereinigten Staaten wurde er wegen Angriffs auf die bestehende Gesellschaftsordnung und die Religion verhaftet, aber dank seinem guten Stern und seiner Verachtung der Gefahr blieb er nie lange hinter Gittern.
    1894 war er Arzt auf dem deutschen Schiff, das an der Küste von Bahia kenterte und dessen Trümmer für immer vor der Festung São Pedro liegenblieben. Knapp sechs Jahre zuvor hatte Brasilien die Sklaverei abgeschafft, und vor fünf Jahren war aus dem Kaiserreich eine Republik geworden. Gall war fasziniert von der Mischung der Rassen und der Kulturen in diesem Land, von dem sozialen und politischen Umbruch, von dieser Gesellschaft, in der Europa und Afrika sich so eng berührten, und von noch etwas, ihm bis dahin Unbekanntem. Er beschloß zu bleiben. Eine Arztpraxis konnte er nicht aufmachen, weil er keine Titel vorzuweisen hatte, so daß er sich, wie früher in anderen Ländern, seinen Lebensunterhalt mit Sprachunterricht und Gelegenheitsarbeiten verdiente. Obwohl er durch das Land vagabundierte, kehrte er immer wieder nach Salvador zurück, wo er gewöhnlich in der Buchhandlung Catilina, im Schatten der Palmen des Mirante dos Aflitos oder in den Matrosenkneipen der Unterstadt anzutreffen war undseinen Gesprächspartnern unter der Hand erklärte, alle Tugenden seien miteinander vereinbar, wenn die Vernunft und nicht der Glaube die Achse des Lebens sei; nicht Gott, sondern Satan – der erste Rebell – sei der wahre Fürst der Freiheit, und
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