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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Schmerzes sei Gott wohlgefällig, aber es gebe eine Grenze, von der an dieses Opfer zu einer vom Teufel geschürten, krankhaften Lust werden könne, und er, Antônio, sei in Gefahr, diese Grenze jeden Augenblick zu überschreiten.
    Doch Antônio hatte ihm nicht gehorcht. An dem Tag, da der Ratgeber und sein Gefolge nach Pombal zurückkehrten, stand der Beatinho im Laden des Caboclo Umberto Salustiano, und das Herz stand ihm still und die Luft in seiner Nase erstarrte, als er ihn, nur einen Meter entfernt, umringt von seinen Aposteln und Dutzenden von Dorfleuten, Männern und Frauen, vorbeigehen und, wie das letzte Mal, geradewegs auf die Kapelle zugehen sah. Er folgte ihm, mischte sich in das erregte Gedränge der Leute, in dem er unterging, und fühlte einen Sturm in seinem Blut. In der Nacht hörte er ihn im Schein der Flammen auf dem von Menschen überfüllten Platz predigen und wagte noch immer nicht, sich ihm zu nähern. Diesmal war ganz Pombal da und hörte ihm zu.
    Fast schon im Morgengrauen, als die Dorfleute gegangen waren, die gebetet und gesungen hatten und ihm ihre kranken Kinder gebracht hatten, damit er Gott um ihre Heilung bitte, und ihm ihre Kümmernisse erzählt und ihn gefragt hatten, was die Zukunft bringen werde, und die Jünger sich schlafen gelegt hatten, sich gegenseitig als Kissen und Schutz gegen die Kälte benützend, wie sie es immer taten, trat der Beatinho über die Zerlumpten hinweg in jener Haltung tiefster Verehrung, mit der er zur heiligen Kommunion ging, zu der dunklen violetten Gestalt, die den struppigen Kopf auf einen Arm gelegt hatte. Die Feuer verbreiteten einen letzten Schein. Der Ratgeber schlug die Augen auf, als er kam, und später wiederholte der Beatinho allen, die sich seine Geschichte anhörten, er habe ihnen sofort angemerkt, daß dieser Mann ihn erwartet habe. Ohne ein Wort zu sagen – er hätte nicht sprechen können –, knöpfte er sein grobes Leinenhemd auf und zeigte ihm den Stacheldraht, der um seinen Leib lag.Nachdem ihn der Ratgeber ein paar Sekunden lang angesehen habe, ohne mit der Wimper zu zucken, habe er genickt und ein kurzes Lächeln sei über sein Gesicht geglitten, und dieses Lächeln, sagte der Beatinho Hunderte von Malen in den kommenden Jahren, sei seine Weihe gewesen. Der Ratgeber wies auf einen Fleck Erde neben ihm, der im Gewirr der Körper ihm vorbehalten zu sein schien. Da rollte sich der Junge zusammen; ohne daß ein Wort nötig gewesen wäre, verstand er, daß ihn der Ratgeber für würdig hielt, mit ihm über die Wege der Welt zu ziehen und gegen den Dämon zu kämpfen. Die schläfrigen Hunde und die Frühaufsteher unter den Einwohnern von Pombal hörten noch lange das Schluchzen des Beatinho. Sie wußten nicht, daß er vor Glück weinte.
    Sein wirklicher Name war nicht Galileo Gall, aber ein Kämpfer für die Freiheit, ein Revolutionär, wie er selbst sagte, und ein Phrenologe war er. Zwei Todesurteile folgten ihm durch die Welt, und von seinen sechsundvierzig Jahren hatte er fünf im Gefängnis verbracht. Er wurde um die Jahrhundertmitte in einer Ortschaft im Süden Schottlands geboren, wo sein Vater als Arzt praktizierte und vergeblich versuchte, einen Freidenker-Club zu gründen, um die Ideen von Proudhon und Bakunin zu verbreiten. Wie andere Kinder mit Feenmärchen, so wuchs Galileo Gall mit dem Grundsatz auf, das Privateigentum sei der Ursprung aller gesellschaftlichen Übel und nur mit Gewalt werde der Mensch die Ketten der Ausbeutung und des Obskurantismus sprengen.
    Sein Vater war Schüler eines Mannes gewesen, den er für einen der erhabenen Weisen seiner Zeit hielt: Franz Joseph Gall, Anatom, Physiker und Begründer der Phrenologie. Während für andere Schüler Galls diese Wissenschaft allenfalls in der Annahme bestand, daß Intellekt, Instinkt und Gefühle auf der Hirnrinde angesiedelte Organe seien und demnach gemessen und abgetastet werden konnten, bedeutete dieses Fach für den Vater Galileos den Tod der Religion, die empirische Grundlage des Materialismus, den Beweis, daß der Geist nicht das war, wofür philosophische Zauberei ihn ausgab, nicht unwägbar und unberührbar, sondern eine Dimension des Körpers, wie dieSinne, und gleich diesen erforschbar und klinisch zu behandeln. Der Schotte impfte seinem Sohn, sobald er denken konnte, diesen einfachen Satz ein: Die Revolution wird die Gesellschaft von ihren Übeln befreien und die Wissenschaft das Individuum von den seinen. Dem Kampf um diese beiden Ziele hatte Galileo Gall
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