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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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sobald durch die revolutionäre Aktion die alte Ordnung zerstört sei, werde die neue, freie und gerechte Gesellschaft von selbst aufblühen. Obwohl es Leute gab, die ihm zuhörten, schien keiner ihn so recht ernst zu nehmen.

II
    Zur Zeit der großen Dürre im Jahr 1877, in den Monaten der Hungersnot und der Seuchen, die in dieser Gegend die Hälfte der Menschen und des Viehs dahinrafften, zog der Ratgeber schon nicht mehr allein umher, sondern begleitet oder besser, gefolgt von Männern und Frauen (er schien diesen Anhang von Menschen auf seiner Spur kaum zu bemerken), die im Stich gelassen hatten, was sie besaßen, um mit ihm zu gehen, die einen, weil seine Ratschläge ihre Herzen berührt hatten, andere aus Neugier oder aus bloßer Trägheit. Manche gaben ihm nur für ein Stück Weg das Geleit, einige wenige schienen für immer an seiner Seite zu sein. Trotz der Dürre setzte er seinen Weg fort, obwohl die Felder nun übersät waren von Kuhgerippen, an denen die Aasgeier hackten, und die Dörfer, die ihn aufnahmen, halb leer standen.
    Daß es in diesem Jahr 1877 nicht mehr regnen wollte, daß die Flüsse austrockneten und im Busch, auf der Suche nach Wasser und Nahrung, zahllose Karawanen von Flüchtlingen erschienen, die auf Karren oder auf den Schultern ihre armselige Habe mit sich führten, war vielleicht nicht das Schrecklichste an diesem schrecklichen Jahr. Das Schlimmste waren vielleicht die Räuber und die Kobras, die über die Sertöes im Norden Brasiliens hereinbrachen. Leute, die Fazendas überfielen, um Vieh zu stehlen, die sich mit den capangas der Gutsbesitzer und den Bewohnern abgelegener Dörfer Schießereien lieferten und zu deren Verfolgung in regelmäßigen Abständen Mobile Einheiten der Polizei geschickt wurden, hatte es immer gegeben. Aber durch den Hunger vermehrten sich die Räuberbanden wie die Brote und Fische in der Bergpredigt. Freßgierig und mörderisch fielen sie in die von der Katastrophe bereits dezimierten Dörfer ein, um die letzten Lebensmittel, Geräte und Kleider mitzunehmen und die Bewohner niederzuschießen, die es wagten, ihnen in den Weg zu treten. Den Ratgeber aber belästigten sie nie, weder mit Worten noch mit Taten. Sie trafen ihn auf den Pfaden der Wüste, zwischen Kakteen und Steinen unter bleiernem Himmel oder im verfilzten Busch, wo das Laub verdorrt war und die Stämme Rissebekamen. Die Cangaceiros, zehn, zwanzig Männer, bewaffnet mit jeglichem Werkzeug, das schneiden, stechen, bohren, ausreißen konnte, sahen den hageren Mann im violetten Gewand, der eine Sekunde lang in gewohntem Gleichmut seine eisigen und besessenen Augen auf sie richtete und dann fortfuhr zu tun, was er immer tat: beten, meditieren, gehen, Rat geben. Die Pilger erbleichten, wenn sie die Banditen sahen, und drängten sich um den Ratgeber wie Küken um die Henne. Die Räuber, die ihre äußerste Armut sahen, gingen vorbei, blieben manchmal aber auch stehen, wenn sie den Heiligen erkannten, dessen Prophezeiungen ihnen zu Ohren gekommen waren. Sie unterbrachen ihn nicht, wenn er betete; sie warteten, bis er sich herabließ, sie zu sehen. Am Ende sprach er zu ihnen mit seiner tiefen Stimme, die den kürzesten Weg in die Herzen zu finden wußte. Er sagte ihnen, was sie verstehen konnten, Wahrheiten, an die sie glauben konnten. Daß diese Landplage sicher das erste Anzeichen der Ankunft des Antichrist und der Strafen sei, die der Auferstehung der Toten und dem Jüngsten Gericht vorausgingen. Daß sie sich, wenn sie ihre Seelen retten wollten, rüsten müßten für die Kämpfe, die bevorstünden, wenn die Dämonen des Antichrist wie eine Feuersbrunst über die Sertões hereinbrechen würden, und der Antichrist, das sei der Teufel selber, der auf die Erde käme, um Bundesgenossen zu werben. Wie die Viehtreiber, die Feldarbeiter, die Freigelassenen und die Sklaven, dachten auch die Cangaceiros nach. Und einige von ihnen – Pajeú mit dem zerschnittenen Gesicht, der riesenhafte Pedrão und der blutrünstigste von allen: João Satanás – bereuten ihre Verbrechen, bekehrten sich zum Guten und folgten ihm nach.
    Und wie die Banditen verschonten ihn auch die Klapperschlangen, die wegen der Dürre auf schreckenerregende Weise zu Tausenden auf den Feldern auftraten. Lang, schlüpfrig, dreieckig, verließen sie ihre Schlupfwinkel, wanderten wie die Menschen ab und töteten auf ihrer Flucht Kinder, Kälber, Ziegen. Auf der Suche nach Flüssigkeit und Nahrung fielen sie am hellen Tag in die Dörfer ein. Sie
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