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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Mundvorrat, manchmal auch eine Ziege oder ein Böcklein schickten, wenn der zerlumpte Haufen in den Höfen übernachtete und unaufgefordert die Kapellen der Fazenda saubermachte und auskehrte. Er war so oft in der Runde gegangen, so viele Male hin und wieder zurück durch die Sertões, er war so viele Hochebenenhinauf- und wieder hinuntergestiegen, daß ihn jedermann kannte. Auch die Pfarrer. Es gab nicht viele, und die wenigen, die es gab, waren wie verloren in der Unermeßlichkeit des Sertão, jedenfalls nicht genug, um die zahlreichen Kirchen zu erhalten, die nur am Tag des Dorfheiligen von Pfarrern besucht wurden. Die Vikare in einigen Ortschaften, wie Tucano und Cumbe, erlaubten ihm, von der Kanzel zu den Gläubigen zu sprechen, und behandelten ihn gut; andere, wie die von Entre Ríos und Itapicurú, verboten es ihm und bekämpften ihn. In den übrigen gestatteten ihm die Vikare, wenngleich widerstrebend, in der Vorhalle Litaneien zu beten und zu predigen, als Lohn für das, was er an Kirchen und Friedhöfen tat oder weil seine Macht über die Seelen der Sertanejos so groß war, daß sie fürchteten, sich mit ihren Gemeinden zu überwerfen. Wann erfuhren der Ratgeber und seine Gefolgschaft an Büßern, daß die Monarchie 1888 irgendwo in diesen fernen Städten, São Paulo, Rio de Janeiro, deren Namen ihnen fremd vorkamen – selbst Salvador, die Hauptstadt des Bundesstaates, sagte ihnen nichts – die Sklaverei abgeschafft hatte und daß diese Maßnahme Unruhe ausgelöst hatte in den Zuckerfabriken von Bahia, die nun plötzlich keine Arbeitskräfte mehr hatten. Erst Monate nach dem Erlaß kam die Nachricht zu den Sertanejos, so wie Nachrichten immer in diese entferntesten Teile des Kaiserreichs kamen: verspätet, entstellt, manchmal schon überholt, und ließen die Behörden sie auf den Plätzen ausrufen und an der Tür der Rathäuser anschlagen.
    Und vermutlich mit der gleichen Verspätung erfuhren der Ratgeber und sein Gefolge im Jahr darauf, daß die Nation, der sie angehörten, ohne es zu wissen, aufgehört hatte, ein Kaiserreich zu sein, und nun eine Republik war. Nie erfuhren sie, daß dieses Ereignis bei der alten Obrigkeit nicht die mindeste Begeisterung hervorrief, so wenig wie bei den ehemaligen Sklavenhaltern (die Herren über Zuckerplantagen und Herden blieben), auch nicht bei den Vertretern der freien Berufe und den Beamten von Bahia, die in diesem Wandel so etwas wie den Gnadenstoß für die bereits unterhöhlte Hegemonie der ehemaligen Hauptstadt sahen, die zweihundert Jahre lang das Zentrum des politischen Lebens und der Wirtschaft Brasiliens gewesen und jetzt nur noch die wehmütige arme Verwandtewar, die alles nach dem Süden abwandern sah, was vormals ihr gehört hatte: Prosperität, Macht, Geld, Arbeitskraft, die Geschichte. Und selbst wenn sie es erfahren hätten, hätten sie es nicht verstanden noch wäre es ihnen wichtig gewesen, denn der Ratgeber und die Seinen hatten andere Sorgen. Und was hatte sich auch, abgesehen von einigen Namen, für sie geändert? War diese Landschaft mit der ausgetrockneten Erde und dem bleiernen Himmel nicht dieselbe wie immer? Und heilte das Land nicht noch immer seine Wunden, beweinte seine Toten, versuchte, das Verlorene wiederzugewinnen, obwohl Jahre seit der Dürre vergangen waren? Was hatte sich denn in diesem schwer geprüften Norden Brasiliens geändert, seit es einen Präsidenten statt eines Kaisers gab? Kämpfte der Landarbeiter etwa nicht weiterhin gegen die Unfruchtbarkeit des Bodens und den Geiz des Wassers, damit Mais, Bohnen, Kartoffeln und Maniok wuchsen und Schweine, Hühner und Ziegen am Leben blieben? Waren die Dörfer nicht nach wie vor voll von Arbeitslosen und die Straßen wegen der Banditen gefährlich? Gab es nicht überall Heere von Bettlern als Erinnerung an die Verwüstungen von 1877? Waren die Märchenerzähler nicht dieselben? Fielen nicht immer noch, trotz aller Anstrengungen des Ratgebers, die Häuser des guten Jesus in Trümmer? Aber doch, etwas hatte sich unter der Republik geändert. Zu Schaden und Verwirrung aller wurde die Kirche vom Staat getrennt, die Religionsfreiheit wurde eingeführt und die Friedhöfe wurden verweltlicht, für die von nun an nicht mehr die Pfarrer, sondern die Rathäuser zuständig waren. Während die ratlosen Vikare nicht wußten, was sie sagen sollten angesichts dieser Neuerung, die von der hohen Geistlichkeit resigniert hingenommen wurde, wußte der Ratgeber sofort Bescheid: Gottlosigkeiten waren das,
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