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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel
Autoren: Brigitte Blobel
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PROLOG

    Ich heiße Svetlana Olga Aitmatowa. Ich bin vierzehn Jahre alt und weit von hier zur Welt gekommen, in einem Zug zwischen Sibirien und der Ukraine. Meine Mutter sagt, sie hätte es damals noch bis in ein Krankenhaus geschafft, wenn der Zug wegen Schneeverwehungen nicht zwei Tage irgendwo liegen geblieben wäre. Zwei Frauen aus dem Abteil haben ihr bei meiner Geburt geholfen, und ein alter Mann hatte eine Thermoskanne mit kochendem Wasser, gerade aufgefüllt an der letzten Station. Eine der Frauen hieß Svetlana, die andere Olga. Daher habe ich meine Namen. Manche Dinge im Leben kann man sich nicht aussuchen. Ich würde gerne Jackie heißen oder Maggie. Meine Mutter wollte mir eigentlich einen deutschen Vornamen geben, wie Katja oder vielleicht Marie. Weil sie schon damals davon geträumt hat, als sogenannte Russlanddeutsche eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen.
    Ich bin ein Meter und dreiundsiebzig groß, habe die Blutgruppe Null, helles, mittelblondes Haar und graublaue Augen. Außer den üblichen Kinderkrankheiten hatte ich nur eine Blinddarmentzündung. Im Grunde bin ich ein kerngesunder Mensch. Im Grunde... Und seit ein paar Tagen geht es auch wieder aufwärts mit mir, ich fühle mich besser. Jetzt haben wir - glaube ich - schon Anfang August. Es sind Ferien.

    Manchmal, wenn ich wegen der Hitzewelle, die gerade hier in Schleswig-Holstein herrscht, nicht einschlafen kann, stelle ich mir meine Schule vor, so ganz ohne Schüler. Und ohne Lehrer. Ohne Lärm und ohne Gerenne und Gelächter. Und ohne Leute, die sich auf dem Klo verstecken müssen, weil sie Angst haben. Die Tafel in deiner Klasse ist sauber gewischt. Darauf stehen keine Sachen, die dir Angst machen könnten. Auf deinem Platz klebt kein Zettel, der dich rot werden lässt. Oder dir Tränen der Wut in die Augen treibt. Niemand lauert dir im Treppenhaus auf.
    In meiner Vorstellung sind im Klassenraum alle Fenster geöffnet. Die Krähen fliegen hinein und hinaus. Manche machen auf die Tische oder hocken auf der Stuhllehne und drehen ihre Köpfe hierhin und dorthin. Sie denken wahrscheinlich, dass es hier schön ist und friedlich. Und überlegen vielleicht, hier nächstes Jahr ihr Nest zu bauen, oben hinter dem Globus auf dem Kartenschrank oder auf der Fensterbank, auf die morgens der erste Sonnenstrahl fällt.
    Tiere sind ahnungslos. Sie können sich nicht vorstellen, wie gemein die Menschen zueinander sind. Eine Krähe hackt der anderen eben kein Auge aus. Krähen wären die besseren Menschen.

    Ich wohne bei meinen Eltern im Finkenweg Nr. 9, erster Stock, in Wohlstorf, einem kleinen Ort. (Jetzt allerdings bin ich für eine Zeit hier in der Kieler Psychiatrie...) Meine Mutter heißt Anna, Anna Leschkowa, weil mein Vater Leschkow heißt, Oleg Leschkow. Vor drei Jahren sind wir aus Dobroje nach Deutschland gekommen. Dobroje ist eine kleine Stadt in der Ostukraine. Obwohl meine Mutter deutsche Vorfahren hat und sie mir als Kind deutsche Schlaflieder
vorsang, haben wir immer nur Russisch gesprochen. Ich konnte, als ich fünf Jahre alt war, zwar nachplappern: Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen... Aber wenn man mich gefragt hätte, was das heißt - keine Ahnung.
    Oleg ist nicht mein leiblicher Vater. Aber er ist trotzdem ein guter Papa. Ich sage manchmal Papusch zu ihm. Er ist nur aus Liebe zu uns mit nach Deutschland gekommen. Meine Mutter sagt immer, dass Olegs Seele in der Ukraine geblieben ist.
    Ich bin gerne hier in der Klinik. Alle Ärzte und Schwestern sind sehr nett zu mir. Ich fürchte mich nie, wenn die Tür aufgeht. Hier kann nicht einfach jeder hereinkommen. Auch nicht die Leute aus meiner Schule, die das böse Spiel mit mir getrieben haben. Hier ist alles abgeschlossen. Die Schwestern und die Ärzte laufen mit einem großen Schlüsselbund herum. Niemand kann einfach herein- oder herausspazieren.
    Dieses ist die Jugendpsychiatrie und ich bin in der geschlossenen Abteilung. Seit ich hierhergekommen bin, war ich noch nie außerhalb der Klinikmauern. Aber das ist okay für mich. Denn zu unserer Abteilung gehört ein Garten. Mit Bänken und einem Stück Rasen. Das Schönste an dem Garten sind die hohen Mauern, die ihn umgeben. Dicke rote Backsteinmauern. In der Mitte steht eine große Kastanie. Sie hat einen Ast, der weit herausragt; ein dicker Ast, an dem man gut eine Schaukel befestigen könnte. Manchmal träume ich davon, auf einer Schaukel hin- und herzuschwingen, hoch hinaus bis zu den Vögeln.
    Aber ich denke mir, es
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