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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay
Autoren: Chandrahas Choudhury
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erstreckte, Tausende winziger Stäubchen schimmern. In ruhigen Momenten hörte er das gleichmäßige, rhythmische Tuckern des Babur.
    Plötzlich sprang er erschrocken auf. Irgendetwas war ihm über den Fuß gelaufen, doch es war schon wieder weg. Ratten – es musste hier drinnen Hunderte geben! Er setzte sich wieder, und dann hörte er das Geräusch.
    Was war das? Ein leises Jammern, ein kaum hörbares Schluchzen, wie von einem trauernden Geist. Alarmiert wandte Arzee sich um. Er hörte jetzt nur noch das Weinen,nahm das Knistern der Tonspur und das Surren des Babur nicht mehr wahr.
    Von dort drüben kam es! Am Ende einer Reihe, wo der Blick am schlechtesten war, saß einer der dicksten Männer, die Arzee je gesehen hatte, dermaßen beengt in dem völlig unzulänglichen Kinosessel, dass es aussah, als wäre er dort eingesperrt und weinte, weil er nicht mehr herauskam. Sein massiger Körper ragte wie ein Berg von dem Sitz auf, und die Rundung seines Bauchs hob und senkte sich, hob und senkte sich mit jedem schweren Atemzug. Er ließ den Kopf hängen und rieb sich immer wieder die Augen, schaute kurz auf die Leinwand und wischte sich erneut die Tränen weg.
    Aber da lief doch eine Komödie! Arzee verstand das alles nicht.
    »Er ist gut gekleidet, arm ist er also nicht«, dachte er. »Soll ich ihn fragen, was los ist? Aber er ist ja offensichtlich hierhergekommen, um allein zu sein. Dann lasse ich ihn also lieber in Ruhe. Oder nein, ich frage ihn, und wenn er nicht reden will, gehe ich einfach wieder. Es ist schrecklich, wenn jemand weint.«
    Er stand auf und ging durch die Sitzreihe hinter seiner – ein über den Rückenlehnen auf und ab hüpfender Kopf. Je näher er dem Mann kam, desto massiger ragte dieser vor ihm auf und desto kleiner fühlte Arzee sich.
    »Ich bleibe besser außerhalb seiner Reichweite, womöglich ist er verrückt. Wenn er aus irgendeinem Grunde zuschlägt, bin ich geliefert«, dachte er und raunte dann: »Entschuldigen Sie, Sir! Entschuldigen Sie. Warum weinen Sie denn?«
    Der Dicke schaute Arzee an und guckte überrascht, dann verblüfft.
    »Ich habe da vorn gesessen«, sagte Arzee, »und Sie gehört.«
    »Wie klein Sie sind!«, keuchte der Mann mit leiser, kultiviert klingender Stimme. »Sind Sie ein Mann oder ein Traumwesen?«
    »Ich bin ein Mann«, sagte Arzee, »aber ich bin klein – so bin ich eben. Warum weinen Sie denn, Sir? Interessiert der Film Sie nicht?«
    »Doch«, sagte der Mann. »Und ich weine deshalb, weil ich das erste Mal vor über fünfzig Jahren hier war – da war ich gerade mal neun. Über fünfzig Jahre sind seither vergangen! Und ich war erst neun! Schauen Sie mich an. Können Sie sich vorstellen, dass ich einmal nur neun Jahre alt war und – nehmen Sie das nicht persönlich, mein Freund – nicht gößer als Sie?« Er wischte sich erneut das Gesicht ab. »Was waren das für Zeiten! Der rote Teppich, die Lichter, der Geruch der Lederbezüge auf den Sitzen! Die Leute, die damals hierherkamen! Ich liebe dieses Kino, mein Freund. Ich liebe es auf eine Weise, die niemand je verstehen wird. Sie nicht und auch sonst niemand in meinem Umkreis. Sie sind noch jung. Sie wissen nicht, was es heißt, alt zu sein – nicht einfach nur alt zu sein, sondern die Welt, die man kannte, verschwinden zu sehen. Ich weine heute um meine Erinnerungen. Ich weine, wenn ich an mein damaliges Glück denke. Ich möchte wieder neun Jahre alt sein.«
    »Dann sitzen wir im selben Boot, Sir«, sagte Arzee, »ich liebe dieses Kino nämlich auch. Ich bin nicht hier, um mir einen Film anzuschauen, sondern ich arbeite hier – da oben, als Filmvorführer.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja! Ich bin nur auf einen Sprung hier herunter gekommen. Es ist ein großartiger, ein erhabener Ort … Und auch wenn Sie dieses Kino lieben, haben Sie bestimmt noch nicht mal dieHälfte davon zu Gesicht bekommen. In ganz Bombay gibt es nichts Vergleichbares.«
    »Nichts Vergleichbares«, stimmte der Mann zu.
    »Und Sie sind zur rechten Zeit gekommen, Sir, denn bald wird dieses Haus geschlossen und abgerissen – diese Mistkerle! Und ich kann nichts dagegen tun. Sie weinen um eine Zeit, die vergangen ist, Sir, aber wenigstens ist das Kino noch da! Wäre es weg, könnte es Sie an gar nichts mehr erinnern. Gäbe es doch nur mehr Menschen wie Sie. Dann könnten wir versuchen, das Kino zu retten. Aber niemand schert sich darum.«
    »Das ist wahr.«
    »Möchten Sie vielleicht mit hochkommen und sich den Vorführraum anschauen, Sir?
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