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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay
Autoren: Chandrahas Choudhury
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keinen Moment lang vergessen konnte, und in der Ecke hinter dem Bett scharrte unablässig eine Maus, die sich in Shindes Wohnung eingeladen hatte. Die Reihe war – schon seit geraumer Zeit – an Arzee.
    »Deine Chance«, sagte der Fremde.
    Arzee schaute abwesend drein, während er die Karten in den kurzen, dicken Fingern der linken Hand hielt. Sein Blick schweifte umher wie von unsichtbaren Fäden gezogen – er dachte an etwas anderes. Auf die Ermunterung des Außenstehenden schaute er wieder in sein hoffnungsloses Blatt. Sein Leben drängte vorwärts, und seine Sterne veränderten rapide ihre Position, aber beim Kartenspiel hatte er immer noch das gleiche Pech! Arzee war abergläubisch: An einem Tag wie heute wäre es kein gutes Omen zu verlieren. Plötzlich sagte er laut:
    »Hört mal zu! Ich muss euch was erzählen.«
    »Spiel erst«, sagte Shinde. »Ich kenn dich doch.«
    Arzee murmelte etwas, wickelte seinen Kaugummi in eine Busfahrkarte, steckte sie weg und schaute wieder auf seine Karten. Als er sich zurücklehnte, um in die Hosentasche zu greifen, verschwand sein im Vergleich zum Körper großer Kopf aus dem Licht, und einen Moment lang war er nur noch eine über geschürzten Lippen und markantem Kinn vorragende Nase. Hari machte eine höhnische Bemerkung, gerade solaut, dass Arzee sie nicht verstand, und die anderen kicherten. Arzees Mundpartie spannte sich an, er sog scharf die Luft ein, und dann erschien wieder sein ganzes Gesicht, das mit seinen buschigen Augenbrauen und leuchtenden Knopfaugen grimmig wirkte. Normalerweise war Arzee schnell beleidigt. Oft auch grundlos. Doch heute grinste er bloß und steckte sich eine Zigarette zwischen die schiefen Vorderzähne. Dann zog er unvermittelt sein kurzes Bein nach hinten wie eine Marionette, an deren Fäden gezogen wird, und schleuderte mit einem schwungvollen Tritt die auf dem Boden liegenden Karten in die Höhe, seinen japsenden Freunden ins Gesicht.
    Sehr angetan von der Bestürzung, die er hervorgerufen hatte, hob er die Arme und kreischte: »Ojeee, was hab ich denn da gemacht! Noch zwei Stiche, und ich hätte gewonnen!«
    »Du kleiner …!«, schrie Hari und warf verärgert seine Karten auf den Boden.
    »Unentschieden! Die Verhandlung wird vertagt!«, rief Arzee. »Ich muss sowieso gehen.«
    »Wenn du diese beiden Buben hier gehabt hättest, hättest du nicht gehen müssen!«
    »Mag sein, mag sein.« Arzee lachte gackernd und rieb sich die Hände. »Denkt daran, alles ist recht, wenn das Leben ungerecht ist.«
    Und obwohl er nicht unterbrochen werden wollte, hielt er einen Augenblick inne, ehe er sagte, was er schon seit zehn Minuten sagen wollte – sagen wollte, aber nicht über die Lippen brachte, weil er Angst hatte vorzugreifen. Dabei hatte er wirklich alle Möglichkeiten durchgespielt! Man konnte nur zu diesem einen Schluss kommen. Er durfte nicht mehr ängstlich sein – das hatte er sich tausendmal gesagt. Bloßließen sich alte Ängste eben nicht so einfach abschütteln – sie durchdrangen einen, wurden Teil von einem selbst. Andererseits – nicht zu genießen, was einem zusteht, war fast so schlimm, wie es nicht zu haben.
    Er stand auf, zog seine Hose hoch und räusperte sich. Das Ende seines Gürtels, das nicht bis zur Schlaufe reichte, stand vor, als wollte es seinen eigenen Standpunkt vertreten.
    »Gehst du?«, fragte Hari. »Warum zitterst du denn so?«
    »Hört mal zu. Ich habe Neuigkeiten«, sagte Arzee. »Und zwar hat es mit dem Kino zu tun. Phiroz geht in … Ich werde befördert.«

    Phiroz K. Pir – ging – in den Ruhestand. Nach über dreißig Jahren als leitender Filmvorführer im Noor ließ der alte Phiroz es gut sein und übergab Vorführraum und Babur der Obhut seines Vertreters. Ja! Bald würde der Abspann zu Phiroz’ Karriere laufen, mit den Namen seiner Mutter und seines Vaters, seines Arbeitgebers, seiner Freunde und Assistenten, seiner verstorbenen Frau, seines Hundes Tyson. Das Seltsame war: Es gab keinen bestimmten Grund, warum Phiroz gerade jetzt in den Ruhestand gehen sollte. Da er schon über siebzig war und es ihm nicht wesentlich besser oder schlechter ging als vor fünf Jahren, hätte er genauso gut weitermachen können, bis von oben der Ruf an ihn ergangen wäre, nicht nur das Noor, sondern überhaupt diese Welt zu verlassen, und seine Seele auf einem Lichtstrahl wie jenem, der durch den Zuschauerraum des Noor geworfen wurde, in den Himmel projiziert worden wäre. Aber Arzee begriff, dass im Leben eines
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