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Moloch

Titel: Moloch
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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    »Man braucht eine Menge Licht, um eine Stadt zu erschaffen, nicht wahr?«
    VERONICA LAKE ZU ALAN LADD
    Die blaue Dahlie (1946)
     
    Städte haben etwas an sich… etwas, das man nur schwer erklären kann – fast so, als würde dieses Zusammenspiel aus Gebäuden, Straßen, Gassen und Geschäften eine eigene Persönlichkeit erlangen und zu etwas Größerem als nur der Summe seiner Bestandteile werden. Dabei ist es überhaupt nicht wichtig, von welcher Stadt wir hier reden – sie sind alle gleich.
    Wir benutzen das Konzept der Stadt als Sinnbild für die menschliche Gesellschaft, ganz gleich, ob wir eine Atmosphäre von rücksichtslosem Kommerz, von städtischem (und moralischem) Verfall, von künstlerischen Anstrengungen, technologischem Fortschritt oder trostloser Einsamkeit schaffen wollen. Jede Form von Menschlichkeit – und auch Unmenschlichkeit – ist vertreten.
    Die Stadt als Schauplatz für Geschichten der Genres Science Fiction und Fantasy wurde bereits an anderer Stelle ausführlich dokumentiert – insbesondere in Brian Stablefords exzellentem Essay in The Encyclopedia of Science Fiction. Diese Fülle von Informationen will ich hier nicht noch einmal ausbreiten. Aber ich möchte diese Sammlung einleiten, und zu diesem Zweck versuchen, Sie auf die richtige Atmosphäre einzustimmen.
    1976 verbrachten meine Frau Nicky und ich unsere Flitterwochen in New York.
    Wir waren auf dem Weg von einem Kino am Columbus Circle zurück zum Hotel – dem heute längst nicht mehr existierenden Barbizon Plaza am Central Park South. Es regnete in Strömen, und von ein paar Autos abgesehen war die Straße menschenleer. An einer Kreuzung blieben wir stehen und warteten darauf, dass die Ampel auf Grün umsprang.
    Aus einer Querstraße kommend wartete ein Wagen darauf, nach links abbiegen zu können, und auf der uns gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann, der ganz eindeutig zu tief ins Glas geschaut hatte. Auf einmal machte er sich daran, die Straße zu überqueren, und fast gleichzeitig fuhr der Wagen los und bog ab. Der Fahrer wurde langsamer, um den Fußgänger passieren zu lassen, doch der hatte mit einem Mal gar nicht mehr die Absicht, zur anderen Straßenseite zu gelangen. Stattdessen blieb er stehen, schwankte leicht und wandte sich dem wartenden Wagen zu. Eine Hand stemmte er in die Hüfte, mit der anderen winkte er abfällig… woraufhin der Fahrer den Motor aufheulen ließ, sich dem Mann näherte, ihn auf eine sonderbare, fast schon sanfte Weise auf die Motorhaube nahm und ihn dann unfeierlich in einige zusammengestellte Mülltonnen beförderte. Der Fahrer gab Gas und entkam in die stürmische Nacht, bis die Rücklichter seines Wagens vom strömenden Regen verschluckt wurden.
    Wir sahen verblüfft mit an, wie sich der Mann aufrappelte, dem Durcheinander aus Müll und zerbeulten Tonnen entstieg, sich den Schmutz von der Kleidung klopfte und dann mit einer ausgiebigen Bekundung seines Missfallens – wohlgemerkt nur Missfallen, kein Unglaube – erneut die Straße schwankend und nun ein wenig hinkend überquerte. Er verschwand hinter uns in einer dunklen Ecke jener Welt, in der er lebte.
    Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert, und es war von niemandem sonst beobachtet worden. Aber gab es überhaupt einen Grund, sich aufzuregen? Es war nur ein kleiner Zwischenfall gewesen, der nichts weiter als eine leichte Prellung und in der Stoßstange vermutlich nicht mal eine Beule hinterlassen hatte. Doch darum ging es auch nicht, sondern um den Vorfall an sich: Urplötzlich waren wir in eine Welt eingetaucht, die zwar auf den ersten Blick so wie unsere eigene aussah, die aber auf unerklärliche Weise eine andere war – eine Welt, in der andere Regeln und veränderte Ideale galten, sobald sich möglicherweise Wetter, Gebäude, Ampeln und Fahrzeuge verschworen, um gemeinsam gegen die Unentschlossenheit und die schiere Zerbrechlichkeit der Menschheit vorzugehen. Es war ein Augenblick, wie man ihn in der Twilight Zone oder in Harlan Ellisons Deathbird Stories finden konnte, wenn das Vertraute schlagartig fremd wirkte.
    Auf den nachfolgenden Seiten finden sich vier weitere Augenblicke dieser Art.
    Die Schauplätze der vier Geschichten dieser Anthologie tragen vielleicht hin und wieder einen vertrauten Namen oder zeigen sogar ein Wahrzeichen, das man sofort erkennt. Doch das ist auch schon alles, was Ähnlichkeiten mit der Welt angeht, wie wir sie kennen. Aber keine Angst, das menschliche Leben ist überall zu
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