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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay
Autoren: Chandrahas Choudhury
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Erstes Kapitel
Arzee
    S eit er die Dinge so anging, war vieles anders. Es war schwer zu sagen, wie anders oder was es ihm gebracht hatte, aber er wusste, dass es so war. Er hatte sich von ein paar unnützen Vorstellungen getrennt und sich anderen geöffnet; er sagte Sätze, die er nicht meinte, und freute sich insgeheim, dass er sie geäußert hatte. Er gab weniger und nahm mehr; er saß nicht mehr schüchtern am Rand, sondern stürzte sich ins Tanzvergnügen. Klein war er natürlich immer noch – dagegen konnte er nichts tun. Aber … er wollte, dass die Leute um dieses Aber nicht herumkamen, wenn sie an ihn dachten.
    Alles in allem war der Raum, den er durchmaß, immer weiter und weiter geworden. Früher war er zu berechenbar gewesen, zu unterwürfig, eine leichte Beute. Jeder Tag auf dieser Welt war ein Kampf gegen die Macht und den Willen zahlloser Kräfte, warum also sollte er nicht nach Belieben das Gleis, die Richtung wechseln? Ein Mann konnte nicht einfach so sein, wie er war, wie er gern sein wollte – diese Welt war kein Ort für Gefühle! Vielmehr musste er seine Lage erfassen und sich dann mit ihr auseinandersetzen, sich behaupten – auch Pflanzen konnten schließlich nur wachsen, wenn sie sich der Sonne zuneigten. Er sah jetzt, dass er früher, als er diese grundlegenden Wahrheiten noch nicht erkannthatte, ein Dummkopf gewesen war; schlicht und aufrichtig war er gewesen, hatte nichts zurückgehalten, und natürlich hatte man ihn dementsprechend auch wie einen Dummkopf behandelt. Aber jetzt … wenn er jetzt auch nur jemandem eine Zigarette lieh, würde er das innerlich vermerken! … Die Welt stand in seiner Schuld – sie hatte viel wiedergutzumachen.
    War es irgendjemandem aufgefallen, wie sehr er sich verändert hatte? Arzee war sich nicht sicher. Die Leute waren alle so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihre eigene Geschichte bis ins kleinste Detail kannten und vor anderen ausbreiteten, aber bedeutende Entwicklungen im Leben der anderen überhaupt nicht bemerkten! Und wenn sie doch eine Veränderung wahrnahmen, dann sehnten sie sich in völliger Missachtung der Gesetze von Alter, Zeit und Bewegung nach der alten, der verschwundenen Person zurück. Aber da hatten sie schlechte Karten – früher hätte er ihren Forderungen vielleicht nachgegeben, aber das war vorbei. Nicht sie bestimmten, wer er war – das bestimmte er selbst!
    Er hatte lange seine Wunden geleckt, die Wunden in seinem kleinen, von Zorn und Bitterkeit bebenden Herzen, doch jetzt schaute er wieder nach vorn, bewegte sich vorwärts. Er war aus dieser Geschichte, an die er nicht mehr zu denken versuchte, nicht schwächer, sondern stärker hervorgegangen. Stärker!
    Wirklich, in gewisser Weise war er vorher doch noch ein Kind gewesen.

Zweites Kapitel
Nach vorne schauen
    M ittags um zwölf an einem bedeutsamen Tag im August spielte Arzee mit seinen Freunden in dem kleinen Zimmer von Shinde, dem Fahrer, Karten.
    Sie waren zu viert: Arzee, der keck auf einem Sack Reis über den anderen thronte und Kaugummi kaute; Shinde, der dickbäuchige Fahrer, der selbst im Ruhezustand keuchte wie ein Bus in einer verstopften Straße, und Hari von der Blaskapelle, der mit nacktem Oberkörper dasaß, nur in seiner roten, mit Goldlitzen besetzten Uniformhose. Außerdem war noch ein Bursche dabei, den Hari vormittags irgendwo aufgegabelt hatte, weil sie einen vierten Spieler brauchten, und dessen Namen Arzee sich nicht gemerkt hatte. Warum auch? In dieser Stadt wohnten fünfzehn Millionen Menschen. Wahrscheinlich sah er diesen X nie wieder. Und wenn sich der Mann mit ihm anfreunden wollte … sollte er doch selbst den Mund aufmachen! Arzee konnte sich nicht ständig darum kümmern, dass andere sich wohlfühlten.
    Obwohl helllichter Tag war, meinte man hier drinnen, es sei Nacht. Irgendwie bewegte sich Arzee Tag und Nacht durch Nachtwelten. Die schmutzigen Vorhänge am Fenster waren zugezogen, und eine nackte Glühbirne, die am Kabel von der Decke hing, warf ein klebriges Licht auf die Szene, die an das Allerheiligste in einem Tempel zu dem Zeitpunkterinnerte, wo alle anderen gegangen sind und die besonders Gläubigen sich um die Gottheit versammeln und mit gedämpfter Stimme sprechen. Blecherne Musik entrang sich einem auf der Seite liegenden Transistorradio und lieferte den Beat, der den in ihren Gläsern schimmernden Fusel genießbarer machte. Unter dem Spülbecken hörte man ein undichtes Wasserrohr wispeln, als wüsste es ein Geheimnis, das es
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