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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay
Autoren: Chandrahas Choudhury
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wir selbst herbeiführen, und nicht einer, der uns aufgezwungen wird. Und wenn ich diese Stadt verlassen und woanders hingehen muss, werde ich mich von Bombay auf die gleiche Weise verabschieden: mit Liebe und Dank. Ohne Groll und Flüche. Auf Wiedersehen, Heimatstadt! Ich werde das Leben, das du mir geschenkt hast, nie vergessen. Dieses Kino … Ich bin bloß Arzee, der Zwerg, und selbst das nicht richtig, aber ohne das Kino wäre ich nie geworden, was immer ich jetzt bin.«
    Als er an der Haltestelle vor dem Noor aus dem Bus sprang, schaute Arzee auf die Uhr seines seligen Vaters und rechnete sich aus, dass ihm noch genau achtzehn Stunden blieben. Achtzehn Stunden, um sich zu überlegen, was er als Erstes zu Monique sagen würde.
    Im Hof des Noor war niemand, denn die Vormittagsvorstellung hatte bereits begonnen. Auch Tyson war nirgends zu sehen. Bestimmt schlief der Hund irgendwo, und Arzee wusste auch genau, wo – auf dem Boden unter den beiden Armen des Babur, wo es schön warm war. Er sah nur Tawde an der Tür und Kaputkar hinter dem Schalterfenster. Tawde stieß einen langen Pfiff aus, als er Arzee bemerkte, und rief:
    »Die Sonne ist im Westen aufgegangen! Ich habe gedacht, das einzige Filmvorführergesicht, das ich heute zu sehen bekomme, ist das von Sule, aber die erste Vorstellung ist noch nicht mal zur Hälfte vorbei, und Mister Arzee –«
    »Ich hab keine Zeit für deine Faxen«, sagte Arzee und gab Tawde im Vorbeigehen einen Schubs.
    Er ging an den Nymphen auf ihren Sockeln vorüber, schaute zu den teilnahmslosen in die Decke eingelassenen Lampen hinauf und blieb am Fuß der Treppe unentschlossen stehen. Dann wandte er sich um und hielt auf den Kinosaal zu. Abjani musste unter der Schwingtür Arzees Schuhe bemerkt haben, denn er kam aus seinem Büro, um ihn zu fragen, ob bei der Feier am Abend eine bestimmte Garderobe erwartet wurde. Doch Arzee war schon verschwunden.

    Zwar hatte er in den letzten zehn Jahren sechs Tage die Woche in den Kinosaal des Noor hinuntergeblickt, doch war es ewig her, dass er selbst dort gesessen hatte, und so schien es Arzee, als er sich jetzt durch den mottenzerfressenen Vorhang schob, als wäre es das erste Mal.
    Sobald er den schummerig beleuchteten Gang hinter sich ließ, schlug die gewaltige, schwindelerregende Schwärze über ihm zusammen, und ihm war, als fiele er – umso mehr, als sich der Boden unter ihm neigte. Arzee tastete nach einem Halt, doch es gab nur noch das Bild auf der Leinwand und die Finsternis rinsgum. Wo waren die Sitze? Er ging vorsichtig weiter, außerstande, auch nur seine ausgestreckte Hand zu sehen. Seine Finger landeten auf etwas, das ihm wie ein Sitzpolster erschien, doch weiter oben trafen sie auf etwas Weiches, Warmes, das eigentlich nur ein Hals oder eine Wange sein konnte. Eine Hand schlug hart auf sein Handgelenk, ein Mund stieß einen Fluch aus. Arzee entschuldigte sich hastig und stolperte zu einer anderen Reihe weiter. Er streckte den Arm aus, ertastete diesmal unverkennbar eine Sitzfläche, stocherte ein wenig in der Luft herum und kam zu dem Schluss, dass ringsum niemand saß. Dennoch war ihm, als stürzte er sich in einen Abgrund, als er sich niederließ.
    Kaum saß er, wurde er von Kindheitserinnerungen überschwemmt. Der Klang, der sich in seine Ohren bohrte, war schrill und hart, aber das fleckige, grobkörnige Bild war schön, und das leichte Flimmern ebenso, als wäre diese Illusion der Wirklichkeit mit größter Mühe erschaffen worden. Arzee lachte über eine witzige Stelle im Dialog und stemmte die Füße gegen die Rückenlehne vor ihm. Langsam begannen sich im Dunkeln Konturen abzuzeichnen, als träten sie aus dem Nebel hervor. Er sah, dass die Reihe, in der er einen Platz gefunden hatte, ansonsten leer war. Doch ringsum saßen hier und da andere Männer, vertieft und reglos wie Statuen. Und bei einigen Sitzen waren die Rückenlehnen nach hinten oder vorn gekippt, was ihnen eine gespenstische Ähnlichkeit mit Körpern verlieh. Die Dunkelheit hatte nur im ersten Moment etwas Erschreckendes. Dann versank man in ihr, in der Stille, Anonymität und Ablenkung, und das war ein so wohltuender Zustand, dass Arzee gut verstehen konnte, warum so viele Leute hier Zuflucht suchten. Es war ewig her, dass er einen Film anders als durch das schmale Kabinenfenster des Vorführraums gesehen hatte, und so kam ihm die Leinwand jetzt besonders riesig vor. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in dem großen Lichtstrahl, der sich über ihm
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