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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay
Autoren: Chandrahas Choudhury
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machen, doch während er noch auf der Verkehrsinsel stand und darauf wartete, die Straße überqueren zu können, sah er einen 67er Bus kommen. Arzee flitzte über die Straße, und als der Bus weiterfuhr, war er nirgends mehr zu sehen.

    Ach Bombay! Vom Trittbrett des Busses aus schien es Arzee, als wankte und neigte sich die Stadt bei jeder Kurve, jedem Halt. Er schaute nach oben und dachte, dass der Himmel diese Farbe nur in Bombay hatte; er schaute sich um und fand, dass auch die Art und Weise, wie die Leute sich kleideten, wie sie redeten und wie sie liefen – rasch, eilig, ohne etwas zu sehen oder wahrzunehmen, als trügen sie Scheuklappen in ihrem Wettlauf mit der Zeit –, ja selbst die Art, wie sie einen Bus bestiegen, absolut bombayspezifisch war. Von der Bombay Central Bridge aus gesehen, lag die Stadt als eine Masse dichtgedrängter Gebäude vor ihm, wie Filmrollen in einem Schrank, die mal so rum, mal anders herum dastanden, als hätte Sule sie eingeräumt. Und eines der Gebäude, an denen der Blick zuerst hängen blieb und von denen er sich nur ungern löste, war das Noor, das zu den Senioren in diesem Viertel gehörte, so wie der alte Phiroz, dessen Tochter Shireen heute heiratete.
    Ach Phiroz! Ja, irgendwo in diesem Einzelbild, zwischen Tausenden von Menschen versteckt wie ein seltener Baum in einem Wald, schritt der alte Phiroz jetzt bestimmt mit einer Tasse Tee in der Hand auf und ab, sann über ein paar letzte organisatorische Details nach und versuchte, seine Melancholie niederzukämpfen, während Shireen mit ihrer hohen,lieblichen Stimme womöglich im Nachbarzimmer mit einer Freundin telefonierte, die Katze auf dem Schoß und die Füße in einer Wanne mit Wasser. An anderer Stelle im Old Wadia Chawl konnte Arzee Deepak in T-Shirt und Shorts schlafen sehen, mit offenem Mund, genau wie wenn er wach war, während seine hübsche Frau sich setzte, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen, nachdem sie die Kinder in die Schule geschickt hatte. Irgendwo da draußen war auch seine Mutter der letzten sechsundzwanzig Jahre – bestimmt hatte sie schon den Fernseher eingeschaltet, um die Wiederholung der Folge anzuschauen, die sie am Vorabend verpasst hatte, als Arzee nach Hause gekommen war und sie über die Vergangenheit und die Zukunft gesprochen hatten. Ach Mutter! Und dort unten auf der Straße ging der nichtsahnende Mobin mit seinen langen Beinen und raumgreifenden Schritten zur Arbeit, sein säuberlich links gescheiteltes Haar vorne zu einer kleinen Tolle frisiert. Und seine anderen Freunde, die er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, konnten nur bei Shinde sein, um vor der Arbeit noch rasch eine Runde Karten zu spielen. Wie hatte er ihnen allen misstraut!
    »Ob ich auf ein Spielchen vorbeigehe?«, überlegte er. »Nein, lieber nicht, sonst rede ich wieder zu viel. Ich schare sie in Gedanken um mich, da sind sie mir die besten Freunde.«
    Und dieser Moment war so wundersam wie der gestern, als er Moniques Stimme gehört hatte, dünn wie das Maunzen einer Katze, und außerstande gewesen war, irgendetwas zu sagen – außerstande zu denken, zu reden, zu handeln, außerstande zu atmen, schlichtweg
außerstande
. Stumm wie eine Statue hatte er dagestanden, Deepaks Handy am Ohr. Nur einmal hatte er geschnieft. Und dann hatte er gehört, wie sie die Luft einsog und in das Schweigen hinein sagte: »Arzee?«
    Arzee! Selbst nach dieser langen Zeit konnte sie allein an seinem Schniefen erkennen, dass er es war! Und ihn hatte allein der Klang dieser zwei Silben aus dem Bann all der Zerwürfnisse und Qualen befreit, ihn wieder zu einem funktionierenden menschlichen Wesen gemacht. »Ja, ich … ich bin’s!«, hatte er inmitten des Abfalls und Unkrauts gekrächzt, während sich Deepak vor ihm krümmte, auf seine Weichteile zeigte und versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Für Deepak war alles ein Witz.
    Und irgendwie hoben diese paar unbeholfenen Laute, die an Kinder beim Sprechenlernen erinnerten, das bittere Schweigen eines ganzen Jahres auf, und die Worte flogen hin und her, ja kreuzten einander oft wie Schwerter im Turnier. Nach und nach fügte sich aus dem Durcheinander ein neues Bild zusammen. Monique war in Goa, so wie er es gedacht hatte. Doch ihr Vater lebte nicht mehr. Ein Herzinfarkt hatte ihm fünf Monate zuvor den Garaus gemacht. Seither lebte sie allein in ihrem Häuschen am Meer. Vor kurzem hatte sie in Panjim ihren eigenen Salon eröffnet.
    Die Luft war also die ganze Zeit rein gewesen, und
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