Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
Vom Netzwerk:
einmal durch die Wohnung, rückt dort etwas zurecht, räumt da etwas auf, schüttelt die Sofakissen auf, fährt noch einmal mit dem Schwamm über das fürchterliche Wachstuch, stellt das restliche Geschirr an seinen Platz. Dann öffnet sie den Schrank, nimmt eine Schachtel heraus und stellt sie auf den Wohnzimmertisch. Aus ihrer Reisetasche zieht sie einen Flakon mit hellblauen Kapseln. Aus der Schachtel holt sie Sarahs Hochzeitskleid. Sie geht zu Frantz, der noch immer tief schläft, und zieht ihn aus. Es ist mühsam, so ein schwerer Körper ist fast wie eine Leiche. Sie muss ihn ein paar Mal von einer Seite auf die andere drehen. Endlich ist er splitternackt. Sie hebt nacheinander seine Beine an und schiebt das Kleid darüber, dann dreht sie ihn wieder um und zieht das Kleid über seine Hüften. Nun ist es noch anstrengender, Frantz’ Oberkörper ist zu breit, als dass sie das Kleid bis zu den Schultern hochziehen könnte.
    Â»Macht nichts«, sagt sie lächelnd. »Keine Sorge.«
    Sie braucht fast zwanzig Minuten, bis sie ein befriedigendes Ergebnis erzielt hat. Sie musste auf beiden Seiten die Nähte auftrennen.
    Â»Siehst du«, flüstert sie, »es gab doch gar keinen Grund zur Sorge.«
    Sie tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet ihr Werk. Frantz, den das fadenscheinige Hochzeitskleid mehr bedeckt, als dass er es trägt, sitzt im Bett, den Rücken an der Wand, den Kopf auf der Seite, bewusstlos. Seine Brusthaare quellen aus dem runden Ausschnitt. Der Anblick ist ergreifend und völlig erschütternd.
    Sophie zündet sich eine letzte Zigarette an und lehnt sich an den Türpfosten.
    Â»So bist du sehr schön«, meint sie lächelnd. »Fast würde ich ein paar Fotos schießen …«
    Aber es ist an der Zeit, es zu Ende zu bringen. Sie wird ein Glas und eine Flasche Mineralwasser, wird die Barbiturate holen, sie zu je zwei, vielleicht auch je drei Kapseln in Frantz’ Mund stecken und ihn zwingen, sie hinunterzuschlucken.
    Â»Das rutscht doch wie geschmiert …«
    Frantz hustet, würgt manchmal, aber am Ende schluckt er alles. Sophie verabreicht ihm eine zwölffach tödliche Dosis.
    Â»Kostet Zeit, aber es lohnt die Mühe.«
    Am Ende ist das Bett ganz nass, aber Frantz hat alle Tabletten geschluckt. Sophie tritt wieder ein paar Schritte zurück und betrachtet das Gemälde – wahrlich wie bei Fellini, findet sie.
    Â»Fehlt noch ein kleiner Farbtupfer …«
    Sie kehrt mit einem Lippenstift aus ihrer Handtasche ins Schlafzimmer zurück.
    Â»Diese Farbe passt vielleicht nicht so gut, aber nun ja …«
    Sorgfältig zieht sie Frantz’ Lippen nach. Dann schmiert sie oben, unten, an den Mundwinkeln Farbe darüber. Sie macht einen Schritt nach hinten, um zu sehen, wie es wirkt. Ein schlafendes Clownsgesicht in einem Hochzeitskleid.
    Â»Perfekt.«
    Frantz brummt, versucht die Augen aufzuschlagen, was
    ihm auch mit großer Mühe gelingt. Er will ein Wort artikulieren, gibt es aber gleich auf. Er fuchtelt nervös, dann bricht er zusammen.
    Ohne einen Blick zurück, nimmt Sophie ihre Reisetasche und öffnet die Wohnungstür.
    […] Bei der Therapie spricht Sarah im Wesentlichen von ihrem Sohn: die Figur des Jungen, seine Intelligenz, seine Art, sein Wortschatz, sein Geschmack – alles trägt zu der Abneigung bei, die sie für ihn empfindet. Es ist also geboten, die Besuche, die der Sohn in der Klinik macht, von langer Hand vorzubereiten; dabei hilft das Verständnis des Vaters, der von den Prüfungen der letzten Jahre stark gezeichnet ist.
    Der Besuch des Sohnes wird am 4. Juni übrigens Auslöser für Sarahs Freitod sein. Im Laufe der vorangegangenen Tage teilte sie wiederholt ihr Bedürfnis mit, »die Anwesenheit ihres Sohnes nicht mehr ertragen zu müssen«. Sie erklärt sich körperlich nicht mehr dazu in der Lage, dieses schreckliche Spiel des Anscheins noch eine Sekunde länger weiterzuspielen. Nur bei einer endgültigen Trennung, meint sie, könne sie vielleicht weiterleben. Doch durch den Druck, den die Klinik unwillkürlich auf sie ausübt, durch ihre Schuldgefühle und durch die Beharrlichkeit ihres Mannes akzeptiert Sarah dennoch diesen Besuch, aber durch eine heftige Umkehrung der Aggression gegen sich selbst zieht Sarah, kaum hat der Sohn das Zimmer verlassen, ihr Hochzeitskleid an (symbolische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher