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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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Sie hat sogar eine Flasche Wein aufgemacht. Sie ging Zigaretten holen und andere Besorgungen machen. Bei ihrer Rückkehr sitzt Frantz im Bett, sein Kopf, der zu schwer für ihn geworden ist, wackelt. Sophie sieht ihn lächelnd an.
    Â»Jetzt bist du ja bereit …«, sagt sie.
    Er antwortet mit einem unbeholfenen Lächeln, ihm gelingt es jedoch nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie geht zuihm, stößt ihn mit der Handfläche. Als hätte sie ihn mit einem heftigen Hieb auf die Schulter umgehauen. Er hält sich am Bett fest und bleibt sitzen, doch sein Oberkörper schwankt und sucht vergeblich ein Gleichgewicht.
    Â»Jetzt bist du ja schön bereit …«, sagt sie.
    Sie legt ihm eine Hand auf die Brust und drückt ihn mühelos hinunter. Er legt sich hin. Sophie verlässt die Wohnung mit großen grünen Müllsäcken.
    Das ist das Ende. Nun sind ihre Bewegungen ruhig, präzise, entschlossen. Ein Teil ihres Lebens neigt sich jetzt dem Ende zu. Ein letztes Mal betrachtet sie die Fotografien, dann reißt sie sie nacheinander von den Wänden und stopft sie in den Müllsack. Das dauert fast eine Stunde. Manchmal hält sie beim einen oder anderen Bild inne, aber es schmerzt sie nicht mehr so sehr wie beim ersten Mal. Es ist wie ein normales Fotoalbum, in dem sie fast vergessene Bilder ihres Lebens sieht, ohne danach zu suchen. Hier Laure Dufresne, lachend. Sophie erinnert sich an ihr hartes, verschlossenes Gesicht, als sie ihr die anonymen Briefe vorgelegt hat, die Frantz geschrieben hatte. Man müsste den Wahrheiten wieder zu ihrem Recht verhelfen, alles wiedergutmachen, sich von allem reinwaschen, doch dieses Leben ist so weit weg. Sophie ist müde. Erleichtert und distanziert. Hier, Valérie, sie hat sich bei Sophie untergehakt und sagt ihr mit genüsslichem Lächeln etwas ins Ohr. Sophie hat Andrées Gesicht vergessen. Gestern noch war diese Frau gar nicht so wichtig für sie gewesen. Auf diesem Foto findet Sophie sie banal, ernst. Sie erträgt tapfer das Bild, wie sie aus dem Fenster ihrer Wohnung fällt. Danach hält Sophie kaum noch inne. In einen zweiten Müllsack wirft sie all ihre Sachen. Dass sie sie wiedergefunden hat, bringt sie noch mehr aus derFassung als die Bilder: Armbanduhr, Handtasche, Schlüssel, Notizbuch, Terminkalender … Als sie alles eingepackt hat, nimmt sie den Laptop und den letzten Sack. Sie wirft zuerst den Laptop in den großen Container, den Sack mit den Sachen legt sie darauf. Dann kehrt sie in den Keller zurück, sperrt die Tür ab und geht mit dem Sack voller Papiere in die Wohnung hinauf.
    Frantz schläft immer noch, aber er scheint in einem Schwebezustand zu sein. Sie stellt den großen gusseisernen Bräter auf den Balkon, reißt die Seiten aus dem Tagebuch und verbrennt sie. Dann sind die Fotos an der Reihe. Mitunter lodert das Feuer so stark auf, dass sie zurückweichen und warten muss, bevor sie weitermachen kann. Dann raucht sie nachdenklich eine Zigarette und sieht zu, wie sich die Bilder in den Flammen verzerren.
    Am Ende schrubbt sie ordentlich den Topf und räumt ihn weg. Sie duscht und beginnt ihre Reisetasche zu packen. Viel wird sie nicht mitnehmen. Nur das, was sie unbedingt zum Leben braucht. Nun muss sie alles hinter sich lassen.
    […] Niedergeschlagenheit, starrer Blick, Traurigkeit, Angstzustände, mitunter Panik, Schwerfälligkeit im Ausdruck, fatalistische Einstellung zum Tod, große Schuldgefühle, Hang zum Okkultismus, Forderungen nach Bestrafung sind einige der Symptome, die in Sarahs Krankenblatt verzeichnet sind, als sie 1989 wieder in die Klinik eingewiesen wird.
    Durch das Vertrauensverhältnis, das Sarah bei ihrem letzten Aufenthalt zu mir entwickelt hat, kann zum Glück ein positives Klima geschaffen werden, das genutzt werden soll, um das vorherrschende Ziel zu erreichen, nämlich die Aversion, den Ekel, die Abscheu zu lindern, die sie im Geheimengegen ihren Sohn hegt, was umso kräftezehrender ist, als sie noch immer triumphierend den Schein wahren kann, zumindest bis zu der Tablettenvergifiung, die sie erneut in Behandlung zwingt. Damals hat sie seit fünfzehn Jahren unter dem Mäntelchen der liebenden Mutter einen abgrundtiefen Widerwillen und Mordgelüste gegen ihren Sohn unterdrückt. […]
    Sophie hat ihre Tasche neben die Eingangstür gestellt. Wie in einem Hotelzimmer, aus dem sie nun auszieht, geht sie noch
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