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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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seinen ersten Lebensmonaten im Gedenken an ihre totgeborene Tochter kleidet, ist die erste Manifestation dieser Art. Sie gibt mir gegenüber zu, dass sie auf esoterische und okkulte Weise heimlich »schwarzeMessen« zelebriert, was den metaphorischen Aspekt ihrer unbewussten Bitte hinreichend herausstreicht: Wie sie selbst sagt, ruft sie ihre »tote Tochter an, die im Himmel ist«, um den lebenden Sohn »ins Höllenfeuer« zu stürzen. […]
    Zum ersten Mal seit Wochen geht Sophie einkaufen. Bevor sie das Haus verlässt, betrachtet sie sich im Spiegel und findet sich schrecklich hässlich, aber es macht ihr Freude, durch die Straßen zu gehen. Sie fühlt sich frei. Sie könnte jederzeit weggehen – was sie auch tun wird, wenn alles erledigt ist, sagt sie sich. Sie bringt eine Tasche voller Lebensmittel nach Hause. Das reicht ein paar Tage. Aber sie weiß intuitiv, dass das nicht nötig sein wird.
    Er schläft. Sophie setzt sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Sie schaut ihn an. Sie liest nicht, sie spricht nicht, sie bewegt sich nicht. Die Situation hat sich umgekehrt. Sophie kann es nicht glauben. War es denn wirklich so einfach? Warum jetzt? Warum ist Frantz auf einmal so fertig? Er wirkt gebrochen. Er träumt. Er zappelt, sie sieht ihn an wie ein Insekt. Er weint im Schlaf. Sie hasst ihn so, dass sie manchmal nichts anderes mehr fühlt. Frantz wird also zum Gedanken. Zu einem Plan. Sie wird ihn töten. Sie ist schon dabei, ihn zu töten.
    Genau in dem Augenblick, als sie denkt: »Ich bin dabei, ihn zu töten«, schlägt Frantz unerklärlicherweise die Augen auf. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Er starrt Sophie an. Wie kann er aufwachen nach allem, was sie ihm verabreicht hat? Hat sie sich getäuscht .? Er streckt den Arm aus und packt sie fest am Handgelenk. Sie zuckt auf ihrem Stuhl zurück. Er starrt sie an und hält sie fest, immer noch ohne ein Wort. Dann sagt er: »Bist du da?« Sie schluckt.
    Â»Ja«, sagt sie leise. Als hätte er seinen Traum nur kurz unterbrochen, schließt er wieder die Augen. Er schläft nicht. Er weint. Seine Augen sind geschlossen, aber die Tränen laufen langsam bis zu seinem Hals hinunter. Sophie geduldet sich noch einen Moment. Wütend wirft sich Frantz auf die Seite und starrt die Wand an. Seine Schultern werden von Schluchzern geschüttelt. Kurz darauf wird sein Atem wieder langsamer. Er beginnt leise zu schnarchen.
    Sie steht auf, setzt sich wieder an den Tisch und schlägt das Heft auf.
    Der erschreckende Schlüssel zu allen Geheimnissen. Frantz schildert in seinem Tagebuch in allen Einzelheiten sein Zimmer gegenüber der Wohnung, die sie mit Vincent bewohnt hat. Jede Seite ist eine Vergewaltigung. Jeder Satz eine Demütigung, jedes Wort eine Grausamkeit. Alles, was sie verloren hat, ist hier, vor ihr, alles, was er ihr geraubt hat, ihr ganzes Leben, ihre Liebe, ihre Jugend … Sie steht auf und sieht Frantz beim Schlafen zu. Sie raucht an seinem Bett. Sie hat nur einmal in ihrem Leben gemordet – den Wirt eines Fast-Food-Lokals; sie erinnert sich ohne Angst und ohne Reue daran. Und das war noch gar nichts. Diesen Mann, der in seinem Bett schläft, wenn sie erst ihn tötet …
    In Frantz’ Tagebuch taucht die massive Gestalt von Andrée auf. Ein paar Seiten weiter unten fällt Vincents Mutter die Treppe ihres Hauses hinunter und prallt unten tot auf, während Sophie in einem komatösen Schlaf vor sich hin dämmert. Exitus … Andrée fällt aus dem Fenster … Bis dahin hatte Sophie Angst vor ihrem Leben gehabt. Aber sie konnte nicht all das Grauen ermessen, das hinter den finsteren Kulissen ihres Lebens stand. Sophie stockt der Atem. Sie schlägt das Heft zu.
    […] Zweifellos ist es Jonas’ kühlem Kopf, seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit und dem unzweifelhaft positiven Platz, den er im Leben seiner Frau einnimmt, zu verdanken, dass sich Sarahs Hass auf den Sohn nie in einem Medikamentenmissbrauch manifestiert. Dennoch gilt, dass das Kind zu dieser Zeit Objekt heimlicher Misshandlungen durch die Mutter ist: Sie sagt namentlich, dass sie ihn kneift, auf den Kopf schlägt, ihm die Glieder verrenkt, ihm Verbrennungen zufügt etc., doch sie achtet darauf, dass die Verletzungen niemals deutlich sichtbar sind. Sarah erzählt, dass sie bis an die Grenzen ihrer Kraft gegen sich
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