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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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du Hunger?«, fragt sie. »Soll ich den Arzt holen?«
    Er schüttelt den Kopf, aber sie weiß nicht, ob sich das Nein auf den Hunger oder auf den Arzt bezieht. Vielleicht auf beides.
    Â»Wenn es eine Grippe ist, wird es schon wieder vorbeigehen«, sagt er mit tonloser Stimme.
    Er sackt ihr gegenüber auf einen Sessel. Er legt seine Hände flach vor sich hin, als wären es Gegenstände.
    Â»Du musst etwas einnehmen«, sagt Sophie.
    Frantz macht eine Handbewegung, die besagt, wir machen alles so, wie du willst. Er sagt: »Wie du willst …«
    Sie steht auf, geht in die Küche, schiebt ein Tiefkühlgericht in die Mikrowelle und raucht, während sie wartet, bis der Wecker des Geräts klingelt. Frantz raucht nicht, und normalerweise stört ihn der Rauch, aber er ist so schwach, dass er nicht mal zu bemerken scheint, dass sie raucht und ihre Kippen in den Trinkschalen ausdrückt. Er, der für gewöhnlich so pingelig ist …
    Frantz sitzt mit dem Rücken zur Küche. Als das Essen heiß ist, schöpft sie die Hälfte auf einen Teller. Sie sieht kurz nach, ob Frantz noch immer an seinem Platz sitzt, und mischt das Schlafmittel unter die Tomatensoße.
    Frantz kostet und sieht sie an. Das Schweigen macht sie verlegen.
    Â»Schmeckt gut«, sagt er schließlich.
    Er isst ein paar Nudeln, wartet kurz, dann isst er wieder Soße.
    Â»Haben wir Brot?«, fragt er.
    Wieder steht sie auf und bringt ihm eine Plastiktüte mit geschnittenem Brot. Er tunkt die Soße auf. Er isst das Brot ohne Appetit, mechanisch, gewissenhaft auf.
    Â»Was hast du denn genau?«, fragt Sophie. »Hast du irgendwo Schmerzen?«
    Er deutet fahrig auf seinen Brustkorb. Seine Augen sind geschwollen.
    Â»Etwas Heißes wird dir guttun …«
    Sie steht auf, kocht Tee. Als sie zurückkommt, stellt sie fest, dass seine Augen wieder feucht sind. Ganz langsam trinkt er den Tee, doch bald lässt er es sein, er stellt die Schale ab und rappelt sich mit Mühe auf. Geht auf die Toilette, dann schlurft er wieder ins Schlafzimmer und legt sich hin. Sophie lehnt am Türrahmen und sieht zu, wie er sich hinlegt. Es ist ungefähr fünfzehn Uhr.
    Â»Ich gehe ein paar Besorgungen machen«, wagt sich Sophie vor.
    Er lässt sie nie aus dem Haus gehen. Aber dieses Mal schlägt Frantz die Augen auf, starrt sie an, dann wird sein ganzer Körper von einer Starre befallen. Bis Sophie sich angezogen hat, döst er schon vor sich hin.
    […] Im Februar 1974 wird Sarah tatsächlich wieder schwanger. In ihrem hochdepressiven Zustand, in dem sie sich zu dieser Zeit befindet, hat diese Schwangerschaft natürlich gewaltige symbolische Bedeutung; da die Zeugung praktisch aufDen Tag genau ein Jahr nach der vorhergehenden stattfand, überkommen Sarah Ängste esoterischer Art (»dieses Kind hat das andere ›getötet‹, damit es leben kann«), selbstanklagende Panik (sie hat ihre Tochter getötet, wie sie zuvor ihre Mutter getötet hat) und schließlich ein Gefühl der Unwürdigkeit (sie betrachtet sich als eine »unmögliche Mutter«, die nicht in der Lage ist, Leben zu schenken).
    Diese Schwangerschaft, für das Paar ein Leidensweg und für Sarah ein Martyrium, ist von unzähligen Vorfällen gekennzeichnet, von denen die Therapie naturgemäß nur wenige Aspekte herausarbeiten kann. Sarah versucht wiederholt, heimlich eine Fehlgeburt einzuleiten. An den brutalen Mitteln, derer sich Sarah damals bedient, kann man ermessen, wie groß ihr seelischer Druck war, dieses Kind abzutreiben. Auch kommt es in dieser Zeit wieder zu zwei Tablettenvergiftungen – ein Ausdruck der Ablehnung der Schwangerschaft durch die junge Frau, die das Kind, das geboren werden soll und bei dem sie keine Sekunde Zweifel daran hat, dass es ein Junge wird, mehr und mehr als einen Eindringling erlebt, als einen »Fremden für sie«, dem sie nach und nach ganz offen böse, grausame, ja teuflische Aspekte zuschreibt. Wie durch ein Wunder wird diese Schwangerschaft am 13. August 1974 durch die Geburt eines Jungen beendet, der den Namen Frantz bekommt.
    Als Ersatzobjekt lässt dieses Kind die Trauer über den Verlust der Eltern zügig in den Hintergrund treten und zieht Sarahs gesamtes Aggressionspotential ganz allein auf sich, das sich in seinen hasserfüllten Ausformungen häufig und deutlich manifestiert. Dass Sarah ihren Sohn in
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