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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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das ist auch das Mindeste, was man verlangen kann. Beim ersten Anzeichen von Schwäche wollte sie die Dinge in die Hand nehmen. Von nun an, schwört sie sich, wird sie ihn nicht mehr aus den Klauen lassen. Es sei denn, tot.
    Als sie ins Schlafzimmer kommt, sieht er sie so merkwürdig an, als würde er in ihr jemanden erkennen, mit dem er nicht gerechnet hat, als wolle er ihr etwas Schlimmes sagen.
    Aber es kommt nichts. Er schweigt. Er stützt sich auf den Ellbogen.
    Â»Du solltest dich ausziehen«, sagt sie und setzt eine besorgte Miene auf.
    Sie schüttelt die Kissen auf, streicht die Laken glatt. Frantz ist aufgestanden und zieht sich langsam aus. Er wirkt sehr niedergeschlagen. Sie lächelt. »Man könnte meinen, du schläfst im Stehen …« Bevor er sich wieder hinlegt, nimmt er den Tee, den sie ihm gekocht hat. »Das wird dir helfen, ein bisschen zu schlafen …« Frantz trinkt einen Schluck und sagt: »Ich weiß …«
    […] Sarah Weiss heiratet 1964 Jonas Berg, geb. 1933, er ist also elf Jahre älter als sie. Diese Wahl bestätigt die Suche nach einer Vaterfigur, welche die Abwesenheit der leiblichen Eltern wettmachen soll, so gut es geht. Jonas Berg ist ein sehr aktiver, rühriger Mann, er arbeitet hart und hat als Geschäftsmann ein gutes Gespür. Er ergreift die Chance, die sich ihm in den Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Krieg bietet, und gründet 1959 die erste Kette von Selbstbedienungsläden in Frankreich. Fünfzehn Jahre später umfasst das Unternehmen, Inbegriff des Franchising, nicht weniger als 430 Filialen und beschert der Familie Berg einen Wohlstand, den sein Gründer durch Umsicht bis zur Wirtschaftskrise in den Siebzigerjahren halten beziehungsweise durch seine Beteiligung an Bauherrenmodellen noch vergrößern kann. Er stirbt 1999.
    Durch seine Solidität und seine ernsthaften Gefühle ist Jonas Berg für seine Gattin stets ein sicherer Hafen. Anscheinend waren ihre ersten Ehejahre vom Auftreten zunächst nur vager, im Laufe der Jahre aber immer eindeutiger werdender depressiver Symptome bei Sarah geprägt, die immer mehr in die Schwermut abglitt.
    Im Februar 1973 ist Sarah zum ersten Mal schwanger. Das junge Paar freut sich unbändig über dieses Ereignis. Jonas Berg träumt sicherlich heimlich von einem Sohn, während Sarah auf ein Mädchen hofft (das natürlich »das ideale Objekt der Wiedergutmachung« und der ständige Behelf werden soll, um das ursprüngliche narzisstische Trauma einzudämmen). Diese These wird durch das außerordentliche Eheglück während der ersten Schwangerschaftsmonate und das fast vollständige Zurückgehen der Depressionen bei Sarah bestätigt.
    Zum zweiten einschneidenden Ereignis in Sarahs Leben (nach der Deportation ihrer Eltern) kommt es im Juni 1973; sie wird verfrüht von einer Tochter entbunden, eine Totgeburt. Die wiederaufgerissene Wunde verursacht ihr Traumata, die auch eine zweite Schwangerschaft nicht heilen kann. […]
    Als Sarah sich sicher war, dass Frantz schlief, ging sie in den Keller; sie hat das Heft mit seinen Tagebucheintragungen heraufgeholt. Sie zündet eine Zigarette an, legt das Heft auf den Küchentisch und beginnt zu lesen. Schon bei den ersten Worten ist alles da, alles ist an seinem Platz, fast genauso, wie sie es sich vorgestellt hat. Seite für Seite wird ihr Hass größer, wird zu einem Knoten in ihrem Bauch. Die Worte in Frantz’ Heft entsprechen den Fotos, mit denen er die Kellerwände tapeziert hat. Nach den Bildern sieht sie nun die Namen vorbeizeihen: erst Vincent und Valérie … Hin und wieder hebt Sophie den Blick zum Fenster, drückt ihre Zigarette aus und zündet sich eine neue an. Würde Frantz nun aufstehen, könnte sie ihm ein Messer in den Bauch rammen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, so sehr hasst sie ihn. Sie könnte ihn im Schlaf erstechen, das wäre ganz einfach. Aber eben weil sie ihn so hasst, macht sie nichts dergleichen.Es gibt mehrere Lösungen. Sie hat sich noch nicht entschieden.
    Sophie hat eine Decke aus dem Schrank geholt und schläft auf dem Wohnzimmersofa.
    Nach zwölf Stunden Schlaf taucht Frantz auf, aber es ist, als würde er noch immer schlafen. Sein Schritt ist langsam, sein Gesicht aschfahl. Er blickt das Sofa an, auf dem Sophie die Decke liegen gelassen hat. Er sagt nichts. Er sieht sie nur an.
    Â»Hast
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