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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst
Autoren: Pierre Lemaitre
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selbst ankämpfen muss, um dieses Kind nicht zu töten, das nun all die Verbitterung über ihr Leben verkörpert.
    Die Position des Vaters stellt, wie gesagt, den letzten Schutzwall für das Kind dar, um eine potentiell infantizidale Mutter zu überleben. Bezogen auf den Vater entwickelt Sarah ein schizoides Verhalten: Unter Aufbietung einer enormen seelischen Energie gelingt es ihr tatsächlich, ein doppeltes Spiel zu spielen; sie gibt sich für das Kind, das sie im Geheimen am liebsten töten würde, als liebende, fürsorgliche Mutter. Ihr heimlicher Wunsch offenbart sich in zahlreichen Träumen, in denen zum Beispiel das Kind dazu verdammt ist, seine Großeltern in Dachau zu finden und deren Platz einzunehmen. In anderen Traumsituationen wird das Kind entmannt, ausgeweidet oder gekreuzigt oder es ertrinkt, verbrennt, wird erschlagen, meist unter schrecklichen Qualen, die für die Mutter tröstlich, um nicht zu sagen befreiend sind.
    Vor anderen Menschen und auch vor dem Kind selbst gute Miene zum bösen Spiel zu machen verlangt Sarah jeden Augenblick größte Aufmerksamkeit ab. Dies legt den Gedanken nahe, dass sie mit ebendieser Aufmerksamkeit den Hass aufihren Sohn kaschiert, verbirgt und unterdrückt, der ihre seelische Kraft aufzehrt, bis sie in den Achtzigerjahren in tiefe Depressionen fällt.
    Paradoxerweise wird der Sohn von der Rolle des (unwissenden) Opfers in die des (unfreiwilligen) Henkers überwechseln, denn seine Existenz an sich wird, unabhängig von seinem Verhalten, letzten Endes der Auslöser für den Tod seiner Mutter sein. […]
    Zwanzig Stunden später steht Frantz auf. Seine Lider sind geschwollen. Im Schlaf hat er viel geweint. Er taucht in der Schlafzimmertür auf, während Sophie am Fenster raucht und in den Himmel blickt. Mit dem Schlafmittel, das er geschluckt hat, muss er all seinen Willen aufbieten, um diesen Weg zurückzulegen. Sophie hat definitiv die Oberhand gewonnen. Im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden hat sie nun den Wettlauf der pharmazeutischen Mittel gewonnen, bei dem die beiden gegeneinander angetreten sind. »Du schlägst dich wirklich heldenhaft«, sagt Sophie, während Frantz über den Flur zur Toilette wankt. Er schlottert im Gehen, sein Körper wird von jähen Schaudern gepackt, die ihn von Kopf bis Fuß durchlaufen. Ihn hier zu erstechen, auf der Stelle, wäre ein Kinderspiel … Sie geht zur Toilettentür und sieht, wie er auf der Schüssel sitzt. Er ist so schwach, dass es ein Leichtes wäre, ihm mit egal was den Schädel einzuschlagen … Sie raucht und schaut ihn ernst an. Er hebt den Blick zu ihr.
    Â»Du weinst«, stellt sie fest und inhaliert den Rauch.
    Er antwortet mit einem verlegenen Lächeln, dann steht er auf und hält sich an der Wand fest. Er taumelt durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Wieder begegnen sie sich vor der Tür. Er hält sich am Türrahmen fest, neigt den Kopf, als würde er nachdenken. Mit eisigem Blick fixiert er dieseFrau und überlegt. Dann senkt er wortlos den Kopf, legt sich mit weit ausgebreiteten Armen aufs Bett und schließt die Augen.
    Sophie geht in die Küche und zieht wieder Frantz’ Tagebuch heraus, das sie in die oberste Schublade gelegt hat. Sie liest weiter. Sie durchlebt noch einmal Vincents Unfall, seinen Tod … Nun weiß sie, wie Frantz in die Klinik eingedrungen ist, wie er Vincent nach dem Essen geholt, wie er seinen Rollstuhl am Schwesternzimmer vorbeigeschoben, wie er die Sicherheitstür geöffnet hat, die hinaus zur Freitreppe führte. Für den Bruchteil einer Sekunde stellt sich Sophie Vincents schockiertes Gesicht vor, spürt seine Ohnmacht am eigenen Körper. Und in diesem Moment beschließt sie, dass der Rest des Tagebuchs sie nicht mehr interessiert. Sie schlägt das Heft zu, steht auf, öffnet das Fenster weit: Sie ist am Leben.
    Und sie ist bereit.
    Wieder schläft Frantz fast sechs Stunden. Nun hat er über dreißig Stunden lang weder gegessen noch getrunken, er dämmert in komatösem Schlaf vor sich hin. Sophie dachte gerade eben, dass er auch hier verrecken könnte, einfach so. Innerlich verbrennen. An einer Überdosis. Er hat Mengen an Medikamenten geschluckt, die weniger robuste Menschen längst umgebracht hätten. Er hatte häufig Alpträume, und Sophie hörte ihn oft im Schlaf weinen. Sie hat auf dem Sofa geschlafen.
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