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Der Insulaner

Der Insulaner

Titel: Der Insulaner
Autoren: John Maddox Roberts
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KAPITEL EINS
     
    D er Knabe hieß Hael. Nur hielt er sich nicht länger für einen Knaben. Er war bereits in die Bruderschaft der jungen Krieger aufgenommen worden und somit berechtigt, Waffen zu tragen und aus dem Heim seiner Familie in das Lager der Bruderschaft zu ziehen. Damit hatte er das erreicht, wovon jeder Shasinnknabe träumte, obwohl das Aufnahmeritual hart und furchterregend war. Nicht jeder Junge, der sich der Zeremonie stellte, überlebte und war in der Lage, den Speer entgegenzunehmen.
    Hael stützte sich auf den Speer, den er mit großem Stolz aus der Hand eines älteren Jungen empfangen hatte, der die Bruderschaft verließ. Die Waffe, die er in der ausgestreckten Rechten hielt, überragte ihn.
    Schweigend und reglos wie eine Statue stand er am Rand eines Granitfelsens und bewachte die Herde Kaggas, die der Nachtkatzengruppe gehörte. Hunderte von Tieren grasten in der Ebene, aber er hätte sofort gemerkt, wenn auch nur ein einziges fehlte. Die Herde stellte den ganzen Reichtum des Stammes dar und wurde darum gehegt und gepflegt. Die älteren Hirten kannten den Namen jedes Tieres und seine genaue Abstammung. Die Kaggas lieferten den Menschen Milch und Fell, aber ihr Fleisch wurde nur zu wenigen, ganz besonderen Gelegenheiten verzehrt. Nur wenn ein Tier starb oder notgeschlachtet werden musste, aß der Stamm das Fleisch auch an gewöhnlichen Tagen. Vereinzelte Kaggas waren einfarbig schwarz, braun, rötlich oder weiß, die meisten aber waren bunt gescheckt.
    Sie besaßen vier Hörner. Die der männlichen Tiere waren lang und gebogen; die der weiblichen kurz und gerade. Die Schulterhöhe betrug fünf Fuß, und die Köpfe saßen auf langen, anmutigen Hälsen.
    Hael war ein gutaussehender Jüngling mit langen Beinen und schmalen Hüften. In einigen Jahren, wenn er das Erwachsenenalter erreicht hatte, würde er ausgesprochen breitschultrig sein. Durch das fortwährende Ringen – dem beliebtesten Zeitvertreib der Männer der Insel – war er bereits sehr kräftig und muskulös. Seine Haut glänzte wie polierte Bronze. Die Haare, die bei der Aufnahme in den Kreis der jungen Krieger geschnitten worden waren, hatten einen etwas dunkleren Farbton. Noch waren sie nicht wieder lang genug, um in die unzähligen kleinen Zöpfe geflochten zu werden, die alle jungen Krieger trugen. Erst in ungefähr zehn Jahren, wenn Hael zur Gruppe der erwachsenen Krieger überwechselte, würde man ihm das Haar erneut schneiden. Danach war es ihm gestattet, wieder im Dorf zu leben, zu heiraten und eigenes Vieh zu besitzen.
    Sein einziges Kleidungsstück, ein Lendenschurz, aus dem auffallend schönen, gefleckten Fell der Nachtkatze gefertigt, wurde von einem Lederband um die Hüften gehalten. Um die Oberarme und die Unterschenkel hatte er Bänder geschlungen, die aus dem langen Nackenfell der gleichen Kreatur bestanden. Ein kunstvoll geflochtenes Stirnband vervollständigte die Aufmachung. Die Nachtkatze war das Totemtier der Bruderschaft, und ein Teil der Aufnahmezeremonie bestand darin, dass der Bewerber allein in die Berge ziehen musste, um eine Katze zu erlegen. Diese Aufgabe kostete viele junge Männer das Leben. Die Shasinn waren eigentlich ein Hirtenvolk, dem die Jagd – außer aus bestimmten rituellen Gründen oder der Beseitigung von Raubzeug – verboten war. Sie hielten nicht viel von Völkern, die sich von ihr ernährten, Ackerbau betrieben oder Netze zum Fischfang auswarfen.
    Wie alle Shasinn hatte auch Hael leuchtend blaue Augen, die über den hohen Wangenknochen neugierig in die Welt blickten. Um den Hals trug er eine Kette, auf die abwechselnd Zähne und Klauen des Totemtieres aufgereiht waren. An dem Lederriemen, den er über die Schulter geschlungen hatte, hingen ein kleiner Beutel und ein Wasserschlauch.
    Hael besaß nichts weiter als die Dinge, die er am Leibe trug – und seinen Speer. Allerdings war er der Meinung, das reiche vollkommen aus. Der Speer stellte seinen kostbarsten Besitz dar. Stundenlang betrachtete er die kunstvolle Waffe voller Stolz. Die Bronzespitze betrug ein Drittel der Gesamtlänge, und sie bestand aus einer schmalen, schwertähnlichen Klinge, die wie ein Blatt geformt war. Die scharfen Kanten waren aus wertvollem Stahl geschmiedet, der sich deutlich von dem weicheren, rotgolden glänzenden Metall abhob. Das untere Drittel der Waffe bildete ein spiralförmig gedrehter Bronzegriff, dessen äußerstes Ende spitz zulief, damit der Speer aufrecht stehen blieb, wenn man ihn in den Boden
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