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Der Insulaner

Der Insulaner

Titel: Der Insulaner
Autoren: John Maddox Roberts
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stieß. Der mittlere Teil des Speers war aus Flammenholz geschnitzt, dessen ursprüngliche feine rotgoldene Maserung im Laufe der Jahre durch die Handhabung der früheren Besitzer zu dunklem Gold geworden war.
    In der Ebene erblickte Hael ein Dutzend seiner Brüder. Die jüngeren standen ebenso reglos wie er auf ihren Posten, während die älteren zwischen den Kaggas umherwanderten und auf der nie endenden Suche nach Verletzungen, Krankheiten oder sonstigen Beunruhigungen waren. Sie streichelten die Tiere, untersuchten die trächtigen Kaggas nach Anzeichen der bevorstehenden Geburt, sprachen mit ihnen und sangen uralte Hirtenlieder. Immer wieder befreiten sie die Tiere von vollgesogenen Zecken, einer schrecklichen Plage.
    Zu beiden Seiten der Felsen, auf denen Hael Wache hielt, lagen dichte Wälder, die sich bis zu den Hügeln im Hintergrund erstreckten. Er vermeinte die Gegenwart der unzähligen Waldbewohner zu spüren, der Vögel und Insekten, der winzigen Baummännchen und sogar die der verabscheuungswürdigen Jäger mit ihren Bögen und den vergifteten Pfeilen. In weiter Ferne, an der Küste, lagen die Dörfer der Fischer, deren schlanke Boote die Shasinn beeindruckten, obwohl sie das nie zugegeben hätten. Im Flachland lebten Menschen, die den Erdboden mit gebogenen Stäben durchzogen, Samenkörner hineinlegten und nahrhafte Dinge ernteten. Hael wusste, dass ein solches Leben eines Kriegers unwürdig war.
    Noch weiter entfernt, am östlichen Horizont, erstreckte sich eine graue Wasserfläche, die das Festland von den Wolkeninseln trennte. Er wusste, dass sein Stamm auf einer der größten und nördlichsten Inseln lebte, die Gale genannt wurde. Da die Insel so weitflächig war, beherbergte sie außer den Shasinn noch andere Völker, und Hael erschien sie so groß wie die ganze Welt. Das Festland stellte er sich als einen schmalen Landstrich vor, der sich gleich einer in die Länge gezogenen Insel jenseits des Wassers außer Sichtweite erstreckte.
    Jenseits des Wassers gab es geheimnisvolle Menschen: Männer mit behaarten Gesichtern, die in riesigen Booten über das Wasser fuhren. Diese Boote waren zehn- oder zwanzigmal so groß wie die der einheimischen Fischer. Mehrmals im Jahr legten die Fremden an der Küste an und tauschten Metall, Stoffe und andere Kostbarkeiten gegen Käse, Fleisch, Häute, getrocknete Fische, Vogelfedern und die Perlen der Insulaner ein. Hin und wieder gingen sie auch auf Raubzüge und nahmen Kinder und hübsche junge Mädchen als Sklaven mit. Die Männer wurden nicht lebend gefangen. Wenn es aber doch einmal geschah, bereuten die Fremden diesen Fang. Die Bauern und Fischer waren keine so hervorragenden Kämpfer wie die Hirten mit ihren Kriegerbruderschaften, aber auch sie erwiesen sich als zähe, geschickte Gegner. Die Männer mit den behaarten Gesichtern wagten sich nie tief genug ins Landesinnere vor, um den Jägern zu begegnen.
    Das alles bedachte Hael, während er die Herde der jungen Krieger bewachte, wobei seine Aufmerksamkeit nicht eine Sekunde lang nachließ. Hinter ihm, über den Bergen im Westen, türmte sich ein wahres Gebirge aus Wolken auf – wie an jedem Abend. Wenn er sich den Posten mit einem anderen Jüngling teilte, drehte er sich oftmals um und bewunderte den majestätischen Anblick. Da er aber heute allein war, sah er davon ab, obwohl das Betrachten der Wolken einer seiner liebsten Zeitvertreibe war.
    Als es allmählich dunkler wurde, erhob sich im Osten ein blasser Schein über dem Wasser. Er arbeitete sich schleppend am Himmel entlang, als sei er verwundet – und genau das war der Fall. Die in jungfräulichem Weiß erstrahlende Oberfläche des Mondes war von schwarzen Flecken und Streifen übersät.
    Als er sich am Horizont emporschwang, legte Hael eine Hand mit nach außen gekehrter Innenfläche an die Stirn und verneigte sich – die erste Bewegung seit mehr als einer Stunde.
    »Vergib uns, O Mond«, begann er. »Wir unwissenden Menschen verletzten dich. Bitte enthalte uns nicht den Regen vor, noch die Gezeiten, die Fische mit sich bringen – oder die wechselnden Jahreszeiten, die allen weiblichen Wesen dienlich sind.«
    Dann nahm er seine ursprüngliche Stellung wieder ein. Das Gebet war ein uralter Brauch, und unten in der Ebene wiederholten alle jungen Krieger die vertrauten Worte, als sie den Mond erblickten. Wie allen Hirten erschien es auch Hael seltsam, um Fische zu beten, da sein Volk sie nicht verzehrte. Aber natürlich war es wichtig, dass auch andere
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