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Der Hueter und das Kind

Der Hueter und das Kind

Titel: Der Hueter und das Kind
Autoren: Vampira VA
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nahm die einzelnen Schriftbögen von ihrem Schreibtisch und legte sie zu einem säuberlichen Stoß aufeinander. Dann frischte sie den violett schimmernden Farbton ihrer Lippen auf, verstaute das Kosmetiktäschchen in einer Schublade und öffnete schließlich die Tür ins »Allerheiligste«. Was ohne vorherige Ankündigung über die Gegensprechanlage niemand außer ihr durfte. Manchmal kam sie sich mehr wie Duncan Wambaughs Tochter denn wie seine Sekretärin vor.
    »Mister Wambaugh?« fragte sie, nur den Kopf durch den Türspalt streckend.
    Der weißhaarige Anwalt sah vom Aktenstudium auf.
    »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich ...«, setzte die junge Sekretärin an, doch Duncan Wambaugh unterbrach sie.
    »Kommen Sie bitte noch für einen Moment herein, Caitlin, und schließen Sie die Tür«, bat er. In seiner Stimme schwang jener väterliche Ton, mit dem er vor Gericht die Geschworenen davon zu überzeugen pflegte, daß ihr Urteil über einen »verlorenen Sohn« (denn als solchen sah er jeden seiner Klienten) nicht anders als »nicht schuldig« lauten konnte. In Verbindung mit dem treuherzigen Dackelblick seiner etwas altersmüden Augen war dieser Tonfall geradezu unverschämt herzergreifend.
    Caitlin drückte die Tür hinter sich zu und sah den Anwalt fragend an.
    »Ja, bitte?«
    Duncan Wambaugh warf den Aktenordner achtlos auf einen Stapel, der sich neben seinem Schreibtisch türmte, und deutete auf den Stuhl gegenüber.
    »Setzen Sie sich, Kindchen.«
    Caitlin tat auch das.
    Wambaugh lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, legte die Fin-gerspitzen beider Hände gegeneinander und musterte darüber hinweg seine Sekretärin. Er tat es mit einem Blick, der so voller ernsthafter Sorge war, daß es sich dabei unmöglich um einen weiteren Trick aus »Duncan Wambaughs Zauberkiste der Emotionen« handeln konnte.
    Dennoch fühlte Caitlin Appleton sich nicht davon berührt, nicht wirklich jedenfalls. Und auf einer Zwischenebene ihres Denkens beunruhigte sie eben jene Feststellung - wie so viele Dinge in der letzten Zeit, von denen sie nicht wußte, woher sie rührten, ja, nicht einmal, worum es sich bei diesen »Dingen« im Grunde handelte. Sie waren einfach da, unsichtbar und namenlos, aber sie waren unleugbar in ihr! Seit .
    »Was ist los mit Ihnen, mein Kind?«
    Caitlin schrak aus ihren Gedanken und versuchte ihr Erschrecken hinter Verwunderung zu verbergen. Doch damit ließ sich ein Duncan Wambaugh nicht täuschen. Ein Duncan Wambaugh ließ sich allerdings auch nicht anmerken, wenn er jemanden durchschaut hatte ...
    »Wie meinen Sie das, Mister Wambaugh?«
    Er lächelte, gütiger und milder, als er es in seinen juristischen »Dramödien« tat.
    »Sie wissen, wovon ich spreche, Caitlin«, sprach er aus, was er mit dem Blick seiner stets etwas schläfrig wirkenden Augen längst zum Ausdruck gebracht hatte.
    »Tut mir leid, aber das weiß ich nicht«, erwiderte sie - verwirrt, weil sie in diesem Moment zumindest das Gefühl hatte, es tatsächlich nicht zu wissen. Als würde etwas dieses Wissen fortwischen wie ein Schwamm die Kreide von einer Tafel.
    »Sie haben sich verändert, Kindchen«, wurde Duncan Wambaugh präziser. »Irgend etwas stimmt nicht mit Ihnen. Was ist geschehen? Haben Sie Probleme?«
    Caitlin Appleton schüttelte den Kopf, langsam und seltsam ruckartig.
    »Nein, Mister Wambaugh.«
    »Sind Sie sicher? Ich meine - Sie wissen, daß Sie mit allem, was Sie bedrückt, zu mir kommen können. Duncan Wambaugh hilft in und aus jeder Situation.«
    »Nicht nötig, Mister Wambaugh. Es geht mir gut. Alles ist in Ordnung.«
    Alles in Ordnung, wenn ich nur tue, was er ...
    »Wenn ich was ...?«
    Erst Wambaughs fragender Blick zeigte Caitlin, daß sie ihren Überlegungen laut nachgegangen war.
    »Bitte?« fragte er.
    »Nichts, schon gut«, beeilte sich Caitlin zu sagen. »Kann ich jetzt ...?«
    Sie wies über die Schulter zur Tür.
    Der längst im Pensionsalter stehende Anwalt nickte nachdenklich.
    »Ja, gehen Sie nur. Und -«, Caitlin hielt an der Tür noch einmal inne, »- nehmen Sie sich morgen frei. Ruhen Sie sich aus. Und bringen Sie in Ordnung, was immer nicht in Ordnung ist, ja? Und wie gesagt, wenn Sie Hilfe brauchen .«
    »Ich weiß. Danke, Mister Wambaugh«, fiel ihm Caitlin ins Wort, »und gute Nacht.«
    Sie schloß die Tür und blieb stehen. Und hätte Duncan Wambaugh sie jetzt gesehen, so hätte er nicht nur geahnt, sondern hundertprozentig gewußt, daß etwas mit seiner Sekretärin ganz und gar
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