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Der Hueter und das Kind

Der Hueter und das Kind

Titel: Der Hueter und das Kind
Autoren: Vampira VA
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entdeckt hatte.
    Reglos war der fürchterlich zugerichtete Tote auch geblieben, als Nathan Tulliver ihn erreicht hatte.
    Drei oder vier Sekunden lang.
    Dann hatte der Leichnam begonnen, sich zu bewegen.
    Tulliver hätte es für ein Wunder gehalten. Wenn er nicht mit jeder Faser seines Leibes und Seins gespürt hätte, daß etwas ganz und gar
    nicht Wunderbares der »Beweggrund« war!
    Kälte fraß sich mit tausend winzigen, mörderisch spitzen Zähnen unter die Haut des Alten und tiefer. Eine Kälte, die allem hohnsprach, was Tulliver je an Minustemperaturen erlebt hatte. Sie ließ ihn nicht einfach nur frieren, sondern ummantelte alles in ihm mit wahrhaft beißendem Frost, der sich in eisigen Blitzen tief in jede Zelle verästelte. Und doch war die Angst, daran zu sterben, geradezu lächerlich gering im Vergleich zu jener, die ihm der bloße Anblick des »Toten« bescherte.
    In den Wunden, die vor nasser Schwärze glänzten, rührte sich etwas. Als würden Metastasen in widernatürlicher Geschwindigkeit darin wuchern, um die finsteren Löcher zu füllen und zu schließen.
    Und nichts anderes tat die schwammige Bewegung ...
    Der grauenhafte Prozeß ging einher mit ekelhaft feuchten und schmatzenden Lauten, die dem Inuit schier in den Ohren dröhnten, in seinen Gedanken brüllten und seinen Verstand auf eine imaginäre Grenze zuhetzten, über die er nie mehr zurückkommen würde, wenn er sie einmal überschritten hatte .
    »Wahnsinn ...«, wehte es von den bebenden Lippen seines lederhäutigen Gesichts. Die Furchen darin, die ihn in den Augen anderer selbst wie aus Holz geschnitzt aussehen ließen, bewegten sich wie von eigenständigem Leben beseelt.
    Im Gegenlicht der aufgehenden Sonne von einer glühenden Aureole umgeben stand der »Tote« da, und durch die tiefsten Brustwunden, die sich noch nicht geschlossen hatten, bohrten sich blut-farbene Lichtlanzen, auf denen er sich vor Schmerz zu winden schien. Dann wucherte die Schwärze auch in diesen Löchern und verschloß sie.
    Einer körperlosen Leibgarde gleich flankierten die Schatten der Totempfähle den Auferstandenen - - der selbst keinen Schatten warf!
    Nathan Tulliver wunderte sich, daß er in dem Chaos, das in ihm tobte, überhaupt Muße und Gelegenheit für diese merkwürdige Beobachtung fand.
    Doch schon im nächsten Augenblick wurde er abgelenkt.
    Als der unheilige Heilungsvorgang auf das Gesicht des anderen übergriff.
    Eben noch eine formlose Fratze aus Blut und zerfetztem Fleisch, schienen sich mit einemmal unsichtbare Hände der amorphen Masse anzunehmen, um sie zu modellieren. Sie schufen einen noch lippenlosen Mund, der sich öffnete und all den Schmerz, der sich in dem Wiederbelebten aufgestaut hatte, in einem einzigen Schrei entließ.
    Tulliver erzitterte unter der Gewalt des Brüllens und wandte den Blick ab. Als er wieder hinsah - nach drei, allerhöchstens vier Sekunden -, hatten die Unsichtbaren ihr Werk vollendet.
    Der Inuit sah in ein wiederhergestelltes Männergesicht - doch auf eine Weise, die er selbst nicht in Worte fassen konnte, schien es ihm beinahe schlimmer als im zerstörten Zustand. Die Augen lagen im Schatten buschiger Brauen und tief in ihren Höhlen, doch ihre dunkle Färbung rührte nicht daher. Sie waren vielmehr von der Farbe eines sternenlosen Nachthimmels, und sie strahlten ebensolche Kälte aus, wie sie in den unbegreiflichen Weiten der Unendlichkeit herrschen mochte.
    Ein harter Zug lag um die Lippen des anderen, und doch verriet dieser Zug mehr als nur Härte oder auch Ingrimm. Er zeugte von unvorstellbarer Grausamkeit, von gnadenloser Brutalität, von abgrundtiefem Haß - und von vielen Dingen mehr, die zu benennen Nathan Tulliver nicht mehr die Zeit hatte.
    Denn der andere kam näher.
    Vielleicht war es die Kälte, die ihn immer noch in ihrem eisigen Griff hielt, vielleicht auch der Blick aus diesen glanzlosen Augen, die den Inuit lähmte und bannte und ihn die Krummaxt aus den Fingern fallen ließ.
    Als der andere ihm so nahe gekommen war, daß er den Geruch des Todes, der ihm immer noch anhing, wahrnehmen konnte, registrierte Nathan Tulliver noch zwei Auffälligkeiten:
    Eine kreuzförmige Narbe, die auf der Wange seines Gegenübers prangte und wie in schwarzer Glut zu leuchten schien.
    Und zwei elfenbeinfarbene Spitzen, die sich unter seiner Oberlippe hervorschoben.
    Im nächsten Moment nahm der alte Holzschnitzer nur noch eines wahr.
    Schmerz.
    Doch auch der ließ nach, pulsierte im Takt seines immer müder
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