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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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weil er nicht richtig verstanden hatte, was gemeint war. War das nicht eigentlich eine Form des Zweifelns?
     Er hatte damals nicht gewagt, seinen Einwand zu formulieren. Seine vaterlose Kindheit haftete ihm an, das enge Zusammenleben
     mit seiner Mutter, die nach seiner Geburt von seinem Vater verlassen worden war und später Verhältnisse mit zwei anderen Männern
     gehabt hatte, die anscheinend auf die gleiche Weise gescheitert waren. Damals hatte er angefangen zu beten, wenn er im Nebenzimmer
     Streit und die verzweifelte Stimme seiner Mutter hörte. Er hatte sich in sein Gebet eingehüllt wie in einen wärmenden Mantel.
     Und zweifellos war es die Erinnerung an seine damaligen Gefühle gewesen, die ihn später veranlasst hatte, Theologie zu studieren.
     Seine Mutter hätte ihn lieber als Architekten, Arzt oder Wissenschaftler gesehen. Doch schließlich hatte sie sich mit seinem
     Wunsch abgefunden.
    Jetzt hatte er sein Amt. Er konnte sich nicht immer klarmachen, was das hieß. Die Modernisten sagten, man muss den Beruf des
     Pfarrers neu erfinden. Das hatte er früher auch einmal so geäußert. Jetzt war er nicht mehr dieser Auffassung. Eigentlich
     hatte er keine klare Auffassung mehr.
    Er stand auf und ging ins Badezimmer, um Wasser zu trinken. Es beruhigte ihn zu spüren, wie das kalte |27| Wasser durch seine Kehle lief. Wie spät mochte es sein? Zwischen zwei und drei? Er wollte kein Licht machen. Dann würde er
     nur noch wacher werden. Im Dunkeln ging er zu seinem Bett zurück und legte sich mit vorsichtigen Bewegungen hinein. Um sich
     herum spürte er das Haus mit seinen vielen dunklen Zimmern. Morgen musste er sich um Karbe kümmern und um die beiden Unfallopfer
     im Krankenhaus. Nein, nicht morgen. Es ist ja schon heute, dachte er noch.

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|28| II
    OBWOHL ER ALS PFARRER durch seine häufigen Krankenbesuche im Kreiskrankenhaus gut bekannt war, konnte er am frühen Sonntagvormittag
     keine Auskunft bekommen, wie es um die Unfallopfer stand. Kurz bevor er zum Gottesdienst aufbrechen musste, versuchte er es
     ein zweites Mal und wurde mehrfach weiterverbunden. Keiner der ihm bekannten Ärzte schien im Haus zu sein. Er geriet an eine
     Krankenschwester von der Intensivstation, die ihn kannte, aber zögerte, seine Fragen zu beantworten. Schließlich sagte sie,
     wie sie gehört habe, sei die Frau vergangene Nacht tot eingeliefert worden. Über den Zustand des Jungen wollte sie sich nicht
     äußern. Es war ihr aber anzumerken, dass die Dinge nicht gut standen. Über Karbe wusste sie nichts, denn sie hatte keinen
     Nachtdienst gehabt. Falls er die Nacht im Krankenhaus verbracht habe, sei er jetzt wahrscheinlich nach Hause gefahren. Sie
     bot ihm an, ihn mit der Aufnahme zu verbinden, wo man ihm Genaueres sagen könne. Sie schien in Eile zu sein oder tat nur so,
     um sich weiteren Fragen zu entziehen.
    In der Aufnahme erfuhr er, dass Karbe vor etwa zwei Stunden das Krankenhaus verlassen hatte. Die |29| junge Frau, mit der er redete, gab ihm auch die Adresse. Karbe wohnte im Nachbarort Imhoven, der zu seiner Gemeinde gehörte.
     In der Kirche hatte er ihn allerdings noch nie gesehen. Es war jetzt zu spät, ihn noch anzurufen, um einen Besuchstermin mit
     ihm zu verabreden. Karbe war sicher noch verstört. Vermutlich auch ein verschlossener, misstrauischer Mensch, der so schnell
     niemanden an sich heranließ. Gerade deshalb durfte er ihn jetzt nicht allein lassen.
    Die Glocken begannen zu läuten, für ihn das Zeichen, sich auf den Weg zu machen. Bis zur Kirche waren es kaum hundert Meter.
     Er konnte langsam gehen, dem ruhigen Rhythmus des Läutens entgegen. Sich einstimmen, im Einklang sein. Es schien ein schöner
     Tag zu werden. Der Regen hatte wohl gegen Morgen aufgehört. Als er frühmorgens wach geworden war und den Vorhang ein Stück
     zur Seite gezogen hatte, um aus dem Fenster zu blicken, war draußen alles in Nebel gehüllt gewesen. Das hatte es ihm leicht
     gemacht, gleich wieder einzuschlafen. Jetzt hatten sich große Wolkenlöcher gebildet, in denen sich ein hellblauer Himmel zeigte,
     und das Licht glänzte auf dem nassen Laub der Bäume. Auf dem Parkplatz bei der Kirche standen dicht nebeneinander die Autos
     der Hochzeitsgesellschaft.
    Die Tochter eines reichen hiesigen Bauunternehmers heiratete einen Juristen. Die beiden kannten sich schon lange und lebten
     seit einiger Zeit zusammen, wie sie ihm beiläufig erzählt hatten, als sie sich ihm vorstellten. Sie war eine lebhafte junge
    
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