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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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hielt
     aber einen Oberarm fest, unsicher, ob er den Mann zu den Rettungswagen |17| auf der anderen Seite der Straße führen sollte oder besser ein Stück von hier fort.
    »Wollen Sie sich setzen?«, fragte er. »Mein Wagen steht gleich hier«.
    Anscheinend hatte der Mann seinen Vorschlag nicht verstanden oder nicht zugehört. Er stand da und schaute unverwandt zur anderen
     Straßenseite hinüber, wo hinter den undurchsichtigen Milchglasscheiben der Rettungswagen die Ärzte um das Leben der Ertrunkenen
     kämpften. Plötzlich schüttelte er sich, als erschauere er, murmelte dann fast tonlos in sich hinein: »Mein Gott, mein Gott.«
    Konnte er etwas Hilfreiches sagen? Sollte er ihn wieder umarmen? Etwas hinderte ihn daran, etwas in dem Mann selbst, eine
     Ausstrahlung von Unberührbarkeit, die ihn auf Abstand hielt.
    Bisher hatte er nicht daran gezweifelt, dass es in solchen tragischen Situationen richtig sei, ein Gebet zu sprechen. Das
     erschien ihm jetzt unzumutbar formelhaft. Nein, er konnte es nicht. Vielleicht sollte er stattdessen zusammen mit dem Mann
     zu den Rettungswagen hinübergehen und fragen, ob die Ärzte Erfolg hatten. Aber er fürchtete sich, die endgültige Auskunft
     zu bekommen und es dem Mann sagen zu müssen. Er blickte ihn von der Seite an: das fahlblonde Haar, der schwere Kopf. Von irgendwoher
     kannte er diesen Menschen, hatte ihn jedenfalls schon mal gesehen, wusste aber nicht wo und bei welcher Gelegenheit. Und nur,
     um eine Verbindung zu ihm herzustellen, fragte er, wie der Unfall geschehen sei.
    Der Mann wandte den Kopf und schaute ihn aufgestört |18| an, als sähe er an seiner Stelle etwas anderes, einen wiederkehrenden Schrecken: »Bin geblendet worden. Ein Fahrzeug kam mir
     entgegen. Ich musste ausweichen.«
    Er wagte nicht weiterzufragen. Es war das, was ihm schon der Polizist am Telefon gesagt hatte. Für den Mann schien es zu viel
     zu sein; denn er schlug die Hände vor sein Gesicht und stöhnte leise auf.
    Inzwischen hatten die Feuerwehrleute den Opel bis zur Straße hochgezogen und machten Platz für den eben eingetroffenen Abschleppwagen,
     der seine Rampe herunterließ und langsam zurücksetzte. Seltsam, dass solche einfachen Vorgänge so beruhigend und erleichternd
     wirkten. Auch der Mann neben ihm hatte zugesehen. Vielleicht fragte er sich, ob sein Auto noch zu reparieren sei.
    War jetzt hier alles zu Ende? Die Fahrer der Rettungswagen, die mit den Polizisten und einigen Feuerwehrleuten zusammengestanden
     hatten, mussten ein Zeichen bekommen haben, denn sie stiegen eilig in ihre Fahrzeuge und starteten die Motoren. Mit aufheulenden
     Martinshörnern fuhren die Wagen ab und entfernten sich mit schnellem Decrescendo in der lang gestreckten Kurve auf dem Weg
     zur Stadt. Die Fahrzeuge der Feuerwehr folgten, zuletzt der Abschleppwagen mit dem aufgebockten Unglücksauto. Die Lichter
     der Kolonne wurden kleiner und verschwanden in der regnerischen Dunkelheit.
    Er überlegte, ob er sagen solle, dass der plötzliche Aufbruch ein gutes Zeichen sei. Doch er war gelähmt von dem Gefühl, Zeuge
     einer Katastrophe zu sein.
    |19| Ein Polizist trat auf sie zu, gewappnet mit amtlicher Höflichkeit.
    »Herr Karbe, ich muss Sie bitten mitzukommen. Sie müssen zur Kontrolle ins Krankenhaus. Und wir müssen auch noch ein Protokoll
     aufnehmen.«
    Der Mann nickte und schaute zu Boden. Plötzlich stieß er hervor: »Was ist eigentlich los? Warum sagt man mir nichts? Sind
     sie tot?«
    »Genaues weiß ich leider nicht« sagte der Polizist. Und als wollte er so schnell wie möglich auf sicheren Boden zurück, fügte
     er hinzu: »Wir bringen Sie ja ins Krankenhaus, Herr Karbe. Dort können Sie mit den Ärzten sprechen und die Nacht über bleiben.«
    Jetzt, da er den Namen gehört hatte, erinnerte er sich: Der Mann war Lehrer in der städtischen Realschule, an der er selbst
     eine Zeit lang aushilfsweise Religion unterrichtet hatte. Er hatte ihn dort einige Male gesehen. Sie hatten nie miteinander
     gesprochen.
    In den nächsten Tagen wollte er den Mann besuchen und ein ruhiges Gespräch mit ihm führen. Die Adresse konnte er sich wohl
     in der Schule besorgen oder bei der Polizei. Damit brauchte er ihn jetzt nicht aufzuhalten, zumal Karbe wie abwesend wirkte,
     nicht ansprechbar. So sagte er nur kurz: »Ich rufe Sie an«, und schaute ihm nach, wie er, begleitet von dem Polizisten, in
     einen der beiden Streifenwagen einstieg. So müde und fügsam wie sich der Mann bewegte, konnte man
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