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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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und endlich nach Hause wollte.
     Auch für ihn wurde es höchste Zeit. Doch das Gefühl, Fragen stellen zu müssen, die er noch nicht einmal in Gedanken formuliert
     hatte, ließ ihn zögern.
    »Ja«, sagte er, »das alles wird mich noch beschäftigen.«
    »Kann ich mir denken«, sagte der Polizeibeamte. »Schon wegen der Beerdigungen.«
    Er nickte, blickte vor sich auf den Boden. Dann sagte er: »Geben Sie mir doch bitte Ihre Adresse. Vielleicht ergibt sich einmal
     eine Gelegenheit.«
    »Gerne«, sagte der Polizeibeamte wieder, zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Uniformjacke
     und schrieb die Adresse auf.
    »Und die Adresse von Herrn Karbe bitte.«
    »Die habe ich leider nicht. Er wohnt in einem Nachbarort.«
    Der Beamte riss das Blatt aus dem Block und reichte es ihm. Er las den Namen, den er schon gehört hatte, als er hier eintraf,
     aber gleich wieder vergessen hatte. Der Mann hieß Pfeiffer. Arnold Pfeiffer, Polizeimeister. Darunter standen Telefonnummer
     und Anschrift eines Polizeireviers in der Kreisstadt. Er dankte. Sie gaben sich zum Abschied die Hand, und der Polizist wünschte
     ihm gute Heimfahrt und Gute Nacht.
     
    |24| Während er nach Hause fuhr, versuchte er, sich an die Bergung der Ertrunkenen und die Reaktionen Karbes zu erinnern, war aber
     wohl zu erschöpft. Es blieb bei schwachen, verwaschenen Bildern. Karbe war eine leblose, unbewegliche Figur, die er festhielt
     und stützte. Plötzlich durchfuhr es ihn, dass er etwas Auffälliges gesehen hatte, ohne es wahrzunehmen. Karbe war lehmbeschmutzt
     und durchnässt vom Regen, doch seine Hose und seine Schuhe, seine ganze Kleidung hatten nicht so ausgesehen, als wäre er bei
     einem Versuch, seine Frau und sein Kind zu retten, in das Wasser gewatet. Was bedeutete das? Lähmung? Aussichtslosigkeit?
     Musste er das melden? Oder konnte er es den Polizisten überlassen, diesen Fragen nachzugehen? Und wenn nicht, war es dann
     seine Aufgabe, ohne zu wissen, ob er sich vielleicht in seiner Erinnerung getäuscht hatte, einen Verdacht zu schüren? Nein,
     das wollte er nicht. Er wollte abwarten. Er musste es aushalten, abzuwarten, wie die Dinge sich entwickelten.
    Morgen war Sonntag. Er musste Gottesdienst halten, predigen, ein Brautpaar trauen, anschließend noch am Hochzeitsessen teilnehmen.
    Ich muss schlafen, tief schlafen, dachte er, während er die Haustür aufschloss und wie ein Schlafwandler die Treppe zu seiner
     Wohnung hochstieg. Vor einer Stunde bin ich hier aufgebrochen, dachte er, als er in sein Wohnzimmer trat und die beiden Sessel,
     die Kissen und eine verrutschte Decke wahrnahm: eine stehen gebliebene Momentaufnahme, fremd in ihrer Selbstverständlichkeit.
     Noch etwas trinken, dachte |25| er, trinken und durchatmen und dann schlafen. Ja, ich muss schlafen. Am besten nehme ich eine Tablette.
     
    Als er im Bett lag und die Augen schloss, merkte er, dass sein Herz viel zu schnell schlug. Das konnte er besser aushalten,
     wenn er sich auf den Rücken legte und ruhig zu atmen versuchte. Wieder sah er die Körper der Ertrunkenen, die von den Sanitätern
     aus dem Auto gezogen und auf die Bahren gelegt wurden.
    Ich sollte für sie beten, dachte er. Und um ihr Leben bitten.
    Aber wahrscheinlich waren sie beide tot. Und es schien ihm verstiegen und barbarisch, Gott zu bitten, Verstorbene zum Leben
     zu erwecken. Es missachtete das Heilsversprechen der Auferstehung aller Toten am Jüngsten Tag, das dem Tod einen großen Platz
     im Leben einräumte, nur nicht den endgültigen. Bei Bittgebeten, die nicht bloß allgemeine Bitten um Beistand waren, hatte
     er immer das Gefühl, dass sich in der Tiefe der Welt nichts rührte.
    Als Kind hatte er nicht so empfunden, sondern sich vorgestellt oder blind vorausgesetzt, dass jemand ihm zuhörte, der unsichtbar
     blieb, aber trotzdem bei ihm war, bereit, ihm zu helfen, und es hatte sein Gefühl nicht beeinträchtigt, dass keiner seiner
     Wünsche in Erfüllung gegangen war. Wenn er jetzt betete, musste er vermeiden, allzu genau an Gott zu denken, denn er konnte
     ihn sich dann nur als eine schwindelerregende Ferne vorstellen, die seine Worte stocken ließ. Die Mystiker hatten so gebetet.
     Er konnte das nicht. Er brauchte einen unangefochtenen Rest seiner |26| kindlichen Frömmigkeit. Und Rituale, vorgegebene Texte.
    Im theologischen Seminar war damals viel über »selbstreflexive Frömmigkeit« gesprochen worden. Er hatte sich an diesen Gesprächen
     nicht beteiligt,
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