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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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gefragt hatte, ob er gestern Abend eine Party gefeiert habe, hatte er das nicht wiederholt.
    Immer noch war er der junge Pfarrer, der unter aller Augen mit dem Schatten seines Vorgängers zu kämpfen hatte, einem Mann,
     der in seiner ganzen Lebensart besser in die ländliche Umgebung gepasst hatte, schon deshalb, weil er verheiratet war, als
     er die Pfarrstelle angetreten hatte. Er dagegen galt als Modernist, obwohl er sich selbst nicht so sah, jedenfalls nicht in
     einem ausgeprägten Sinn. Im Seminar hatten sie oft über die neu sich stellende Aufgabe gesprochen, in der heutigen Welt christliche
     Glaubensinhalte zu vermitteln. Zeitgemäß und praxisnah sollte es geschehen. Das waren die Leitvorstellungen seiner Studienkollegen,
     die sich gerne als eine Generation von Neuerern verstanden hätten, aber natürlich wussten, dass vor Ort in den Gemeinden viele
     fortschrittliche Neuerungen und Aktivitäten auf sie warteten, sodass nicht mehr viel Spielraum für weitere Projekte blieb.
     Es gab Kindergärten und Altenbetreuung, Gesprächsgruppen und Singkreise, Vorträge und Theatergemeinschaften. Es war ein florierender
     Betrieb mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen, neben denen der sonntägliche Gottesdienst eher als eine traditionelle Pflichtübung
     dahinkrankte.
    Eigentlich war dies ja das Problem. Es ging nicht um Neuerungen, sondern um Erneuerung. Daran waren alle Neuerungen zu messen.
    |9| Die Neuerung, die er eingeführt hatte – dass sich die Gemeindemitglieder beim Segen zum Ende des Gottesdienstes die Hände
     reichten –, hatte anfangs die Gemeinde gespalten. Manche waren dem Gottesdienst ferngeblieben. Im Presbyterium hatte er das
     neue Ritual als anschauliches Bekenntnis zur Nächstenliebe verteidigt. Und als gemeinsame Erfahrung der Gleichheit vor Gott.
     Aber Kurt Rautenbach, ein pensionierter Oberstudienrat, der ihm häufig widersprach, hatte das abschließende Händereichen als
     sentimentalen Kitsch bezeichnet, der nicht in den Gottesdienst gehöre. »Wir wollen hier keinen Hippiekult«, hatte er gesagt.
     Und obwohl niemand ihm zustimmte, war sichtbar, dass diese Bemerkung Eindruck machte. Als er beim nächsten Gottesdienst vor
     dem abschließenden Segen sagte: »Und nun wollen wir uns alle die Hände reichen«, hatte er gebangt, ob die Gemeinde ihm folgen
     würde. Dann hatten fünf oder sechs Leute den Anfang gemacht, und alle hatten sich angeschlossen.
    Inzwischen gab es kein Zögern mehr. Aber er fragte sich, was der Grund gewesen sei. Nur Gewohnheit? Oder vielleicht das Gefühl,
     dass das Händereichen eine Gemeinsamkeit vortäusche, die es überhaupt nicht gab? Sein Widersacher im Presbyterium schien es
     so gemeint zu haben, als er von sentimentalem Kitsch sprach. Aber das hieß doch, die moralische Kraft symbolischer Handlungen
     zu verkennen.
    Er hatte darüber mit einem ehemaligen Studienkollegen zu sprechen versucht, der damals eine Pfarrstelle in der Nachbarschaft
     gehabt hatte. Aber der |10| hatte im Gegensatz zu früher wenig Interesse an dem Gespräch gezeigt und es mit der Bemerkung abgeschlossen: »Mehr oder minder
     sind wir alle nur noch Entertainer und Animateure.«
    Er war sprachlos gewesen, hatte sogar genickt. Wieder hatte er daran denken müssen, dass Claudia ihn auf dem Höhepunkt ihrer
     Auseinandersetzung einen Prediger genannt hatte. Es war einer jener Momente in seinem Leben, die ihn immer wieder bedrängten.
     Er konnte sich nur vor diesen Erinnerungen schützen, indem er irgendetwas Stärkendes, Aufbauendes dagegenstellte, für andere
     und für sich selbst. Morgen hatte er im Sonntagsgottesdienst eine gute Gelegenheit. Er musste die Predigt zu einer Trauung
     halten. Das war ein Thema, dem er sich immer wieder stellen musste. Und diesmal wollte er frei darüber sprechen, in der Sprache
     eines Zeugen.
     
    Draußen fiel seit einer Stunde ein immer dichter werdender Regen, der in den Nachrichten als ein Tief aus Nordwesten angekündigt
     worden war. Es war noch kein Sturmtief, aber ein Rauschen, das ab und zu böig gegen die Fenster schlug. Eine Weile hörte er
     zu. Das Geräusch war beunruhigend. Aber vielleicht nur, weil er selbst voller Unruhe war. Ich sollte heute früh schlafen gehen,
     dachte er. Doch vielleicht war es noch zu früh, um gleich einzuschlafen, und dann begann die Quälerei des Wartens und nervösen
     Herumwälzens. Uneins mit sich selbst schaltete er das Fernsehen an und ließ mit der Fernbedienung die Programme über den Bildschirm
    
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