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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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rutschen. Er stoppte bei einem |11| Turnier von japanischen Sumoringern. Fettleibige Kolosse mit weibischen Brüsten, die windelartige Tücher um ihre Hüften geschlungen
     hatten, hockten am Rand des Kampfrings in einer froschartigen Haltung einander gegenüber, um auf ein Zeichen des Schiedsrichters
     hochzuschnellen und in der Mitte des Ringes mit der ganzen Wucht ihrer Riesenleiber aufeinanderzuklatschen. Sie stießen und
     schoben sich oder versuchten, einander auszuhebeln, und wer stürzte oder mit einem Fuß aus dem Ring geriet, hatte verloren.
     Manchmal dauerte es nur Sekunden. Ohne besonderes Interesse schaute er sich einige Paarungen an und schaltete aus.
    Das Rauschen des Regens und die Windstöße schienen noch stärker geworden zu sein. Hinter den Fensterscheiben, an denen das
     Wasser in glasigen Strömen herunterlief, sah er nur verschwommene Dunkelheit. Aber die Fenster waren dicht. Er sagte sich,
     dass er nachschauen müsse, ob auch im Dachgeschoss alles in Ordnung sei, und stieg zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder
     nach oben.
    Als er in die erste Kammer trat, sah er im matten Licht der einzigen von der Decke herunterhängenden Glühbirne die aufeinandergestapelten
     Kisten und eine Reihe umgekippter Aktenordner. Einige hatten sich geöffnet, und die eingehefteten Briefe schauten wie ein
     schmutziges, obszönes Unterfutter aus den schwarzen Pappdeckeln heraus. Es roch modrig. Die dunklen Flecken an den Wänden
     waren Schimmelpilze. Die schmalen Fenster in den Dachgauben schienen allerdings dicht zu sein. Er hatte das Gefühl, |12| dass die Wind- und Regengeräusche hier oben noch stärker waren als im ersten Stock. Gleich bei seinem Eintritt war es ihm
     so vorgekommen, als würde ihm eine Kappe aus Geräuschen über den Kopf gestülpt. Deshalb hatte er, während er durch die drei
     Kammern ging und hier und da ein loses Fußbodenbrett unter seinem Schritt knarrte, nicht bemerkt, dass im ersten Stock das
     Telefon klingelte. Erst als er schon wieder auf der Treppe nach unten war, hörte er in seinem Wohnzimmer, immer noch kaum
     lauter als ein Zirpen, die letzten Signale. Wer mochte das gewesen sein zu dieser außergewöhnlichen Zeit? Vielleicht doch
     die so lange verstummte Stimme Claudias, die leise fragte: »Wie geht es dir?« Nein, das musste er sich aus dem Kopf schlagen.
     Wahrscheinlich war es wieder eine dieser namenlosen aufdringlichen Anruferinnen, oder immer dieselbe. Er war gerade ins Zimmer
     getreten, als der Apparat wieder klingelte. Er zögerte, den Hörer abzunehmen, und sagte dann nur »Ja?«
     
    Er hörte aufgeregte Stimmen und ein sich näherndes Martinshorn, dann ganz nah eine Männerstimme, die ihn fragte: »Sind Sie
     Pfarrer Ralf Henrichsen von der Notfallseelsorge?«
    »Ja«, sagte er, »was ist los?«
    Der Anrufer stellte sich als Polizeimeister von der Funkstreife vor.
    »Wir haben hier einen schweren Unfall«, sagte er. »Es wäre gut, wenn Sie kämen. Soll ich Ihnen einen Streifenwagen schicken?«
    |13| »Nein, ich habe einen Wagen. Wo ist es denn?«
    Der Polizist beschrieb die Lage des Unfallortes an der Landstraße zur Kreisstadt, etwa zweieinhalb Kilometer vom Ortsausgang
     entfernt, wo der Baggersee an die Straße grenzte.
    »Und was ist passiert?«, fragte er.
    »Jemand hat sein Auto mit Frau und Kind in den See gefahren.«
    »Wie soll ich das verstehen?«, fragte er.
    »Ja, das wissen wir auch nicht, Herr Pfarrer. Der Mann sagt, er sei von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden.
     Er konnte noch rausspringen, bevor der Wagen versunken ist.«
    »Sind Frau und Kind tot?«
    »Das wissen wir nicht. Gerade ist die Feuerwehr gekommen, um den Wagen zu bergen. Ein Notarzt ist auch dabei. Oder sogar zwei.«
    »Ich bin gleich da«, sagte er.
    Er drückte die Austaste und ließ seine Fingerspitze einige Sekunden darauf ruhen, in dem Gefühl, die Nachricht festhalten
     zu müssen, die in seinem Kopf schon zu einem dunklen Klumpen schrumpfte. Ein plumpes Objekt versank in der Schwärze: – das
     Auto, lautlos eintauchend und verschwindend im nächtlichen See.
    Es war ihm völlig entfallen, dass er in dieser Woche Bereitschaftsdienst bei der Notfallseelsorge hatte, obwohl er ein Mitbegründer
     dieser Einrichtung war. Glücklicherweise hatten sie zweimal bei ihm angerufen und hatten ihn erreicht.
    Was brauchte er jetzt? Da die Polizei und die Rettungsdienste |14| vor Ort waren, brauchte er nur seine Regenjacke. Es war eine unerwartete Situation. Aber es
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