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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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meinen, er sei verhaftet
     worden. Offensichtlich war er am Ende seiner Kräfte.
    Nun wurde er wohl nicht mehr gebraucht und konnte nach Hause fahren.
    |20| Als er zu seinem Wagen zurückging, traf er den Polizeimeister, der ihn angerufen hatte. Er hatte mit einer Stablampe bei der
     Unfallstelle die Böschung abgeleuchtet.
    »Was haben Sie gesucht?«, fragte er.
    »Eine Bremsspur. Da ist aber alles zerwühlt und zertrampelt. Und der Regen hat den Boden aufgeweicht. Es lässt sich nicht
     feststellen, ob es eine Bremsung gegeben hat.«
    Es entstand eine Pause, in der sich etwas in ihm ausbreitete wie der Schatten eines Gedankens, den er von sich fernzuhalten
     versuchte, der aber doch von ihm Besitz ergriff, obwohl oder weil der Polizeibeamte es bei seiner Anmerkung beließ. Der Beamte
     hatte wohl nur seinen Frust ausdrücken wollen über eine Ermittlungspanne, die man der Polizei vielleicht vorwerfen würde.
     Er hatte ja auch gleich die Gründe genannt, die er zur Entschuldigung bereithielt: das schlechte Wetter, der Vorrang der Rettungsarbeiten.
     Offenbar beruhigte ihn das, denn er ging wie nach getaner Arbeit neben ihm her und begleitete ihn zu seinem Auto, das einige
     Schritte weiter am Straßenrand stand. »So«, sagte er und blickte auf seine Uhr, »vor genau einer halben Stunde habe ich Sie
     angerufen. Und jetzt ist hier alles schon vorbei. Soll man nicht glauben, was?«
    »Nein, wirklich nicht. Wissen Sie etwas über die Frau und den Jungen?«
    »Nein. Nicht mehr als Sie.«
    »Wahrscheinlich sind sie beide tot. So sah es für mich jedenfalls aus.«
    |21| »Davon muss man ausgehen. Die Ärzte probieren natürlich alles.«
    »Und was geschieht mit dem Mann?«
    »Dem wird eine Blutprobe abgenommen. Und wir nehmen seine Aussage über den Unfallhergang zu Protokoll, falls er überhaupt
     vernehmungsfähig ist.«
    »Meiner Meinung nach stand er unter Schock.«
    »Wahrscheinlich«, sagte der Polizist und fügte hinzu: »Er wird diese Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Vielleicht auch
     länger. Möglicherweise hat er ja auch Schäden davongetragen. Man wird ihn jedenfalls gründlich untersuchen und medizinisch
     versorgen.«
    »Beeindruckend zu sehen, wie der Rettungsapparat funktioniert.«
    »Waren Sie zum ersten Mal dabei?«
    »Ja, zum ersten Mal. Als Sie mich anriefen und nach der Notfallseelsorge fragten, wusste ich im Augenblick nicht, was gemeint
     war.«
    »Das habe ich aber nicht gemerkt.«
    Sie standen wie gute Bekannte in einem Augenblick von Vertrautheit beieinander, und es lag an ihm, »Gute Nacht« zu sagen und
     in sein Auto zu steigen. Doch er konnte es nicht lassen, die Frage zu stellen, die ihn irritierte: »Was würde es denn bedeuten,
     wenn es tatsächlich keine Bremsspur gäbe?«
    »Zunächst einmal nur, dass der Fahrer nicht gebremst hat.«
    »Natürlich«, sagte er erleichtert. »Es hätte ja auch gar keinen Sinn gehabt, da auf der Böschung.«
    |22| »Sinn nicht«, sagte der Polizeibeamte. »Aber in solchen Situationen bremst man instinktiv.«
    »Und wenn er nicht gebremst hat?«
    »Dann stehen wir vor der Frage: Warum nicht?«
    »Aber Sie haben doch gesagt, man kann nicht mehr feststellen, ob es eine Bremsspur gab.«
    »Das ist die Schwierigkeit, die wir haben.«
    »Das unterscheidet uns«, sagte er. »Ich habe damit keine Schwierigkeiten. Ich finde, man muss den Menschen erst einmal vertrauen.«
    »Erst einmal?«
    Er ärgerte sich, dass er das gesagt hatte, und korrigierte sich: »Nein, ich meine grundsätzlich.«
    Auch das war nicht ganz richtig. Er wusste das schon, als er es sagte. Und nun musste er sich anhören, wie der Polizeibeamte
     sagte: »Es ist Ihr gutes Recht, Herr Pfarrer, die Sache so zu sehen. Doch wir müssen allen Spuren nachgehen. Auch der Tatsache,
     dass es keine Spur gibt.«
    Der Polizeibeamte sagte das freundlich lächelnd, wie ein Angebot, die kleine Debatte zu beenden. Doch er hörte eine Zurechtweisung
     heraus. Wahrscheinlich hatte er den Beamten mit der moralischen Belehrung gekränkt. Es war eine jener Phrasen gewesen, die
     ihm manchmal unterliefen, wenn er sich unsicher fühlte und sich gleichzeitig im Recht glaubte. Wenn er an den Mann dachte,
     den er umarmt und zu beruhigen versucht hatte, kamen ihm die Andeutungen des Polizeibeamten noch immer voreilig und unerlaubt
     vor.
    »Vielleicht reden wir noch einmal miteinander«, sagte er.
    |23| »Gerne.«
    Der Polizeibeamte war jetzt kurz angebunden, vermutlich weil er das Gespräch für sinnlos hielt
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