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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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Frau mit kurz geschnittenen braunen Haaren, die im Immobiliengeschäft |30| arbeitete. Er, wenig älter als sie, war Rechtsanwalt und Juniorpartner einer bekannten Sozietät und strahlte die Selbstsicherheit
     eines erfolgsgewohnten Menschen aus. Als Student war er Feldhockeyspieler gewesen und hatte an etlichen internationalen Turnieren
     teilgenommen. Sie hatte ihn dazu gebracht, mit ihr Tennis zu spielen. Und inzwischen war er besser als sie. Außerdem hatten
     sie beide den Segelschein gemacht. Im Urlaub segelten sie.
    Er hatte sich bemüht, locker mit dem Brautpaar zu sprechen, und es half ihm, dass er sich dank des Fernsehens im Sport oberflächlich
     auskannte. Die beiden drückten auf ihn. Sie waren ein eingespieltes Paar mit ausgeprägtem Geschmack und starken gemeinsamen
     Überzeugungen, und er fürchtete, dass sie spürten, wie lebensunkundig er war. Andererseits brauchte er nicht anzunehmen, dass
     sie sich besonders für ihn interessierten. Vermutlich heirateten sie nur, weil sich die Familie der Braut aus Tradition und
     aus Gründen der gesellschaftlichen Repräsentation hier an ihrem Stammsitz ein großes Hochzeitsfest wünschte.
    Für ihn stellte das eine Herausforderung dar. Er hatte sich vorgenommen, dem Gottesdienst und der Trauung eine strenge sakrale
     Form zu geben. Das entsprach wohl auch dem Wunsch der Familie, vor allem dem Wunsch des Brautvaters.
    Er war jetzt so nah, dass er glaubte, die Schwingungen der Luft spüren zu können. Der vibrierende Klang, der aus den Schallfenstern
     des Turmes kam und sich nach allen Seiten ausbreitete, umgab die Kirche wie ein Schutzraum.
    |31| Einige verspätete Kirchgänger aus dem Ort grüßten ihn, und er grüßte freundlich zurück. In der Sakristei empfing ihn der Küster
     mit der Nachricht, die Kirche sei brechend voll.
    »Der Parkplatz auch«, sagte er. »Viele auswärtige Gäste.«
    »Da wird heute im Bellevue ein großes Fest steigen.«
    »Muss ich anschließend auch noch hin.«
    Er streifte den Talar über, zupfte, in den Spiegel blickend, den Stoff an den Schultern zurecht und sagte, weil es ihm plötzlich
     einfiel: »Ich bin heute Nacht zu einem schweren Unfall gerufen worden.«
    »Hab ich gehört. Das war der Lehrer Karbe aus Imhoven mit seiner Familie.«
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Meine älteste Tochter hatte Nachtdienst im Krankenhaus. Die Frau sei tot, hat sie gesagt.«
    »Ja, ich habe heute Morgen angerufen. Wissen Sie etwas über den Jungen?«
    »Der soll einen schweren Hirnschaden haben. Meine Tochter meint, das Auto sei nicht gleich ganz gesunken und er habe hinten
     auf dem Rücksitz noch länger atmen können.«
    Er nickte, konnte jetzt nicht weiter darüber nachdenken, denn das Läuten hatte aufgehört, und im Kirchenraum begann die Orgel
     ihr Vorspiel. Gleich musste er der Gemeinde gegenübertreten und vielen unbekannten Gesichtern. Er blickte in den Spiegel,
     überprüfte seine Haare, sah sein bleiches, übernächtigtes Gesicht.
     
    |32| Er trat von der Seite in den Kirchenraum, wo auf dem Altar die Kerzen brannten und alle Bänke bis zur letzten Reihe besetzt
     waren, vorne Braut und Bräutigam und die Brauteltern und dahinter viele unbekannte Gesichter, auswärtige Hochzeitsgäste und
     Leute aus dem Ort, die er sonst nie in der Kirche sah. Auf den Pulten der Bänke lagen die neuen, rot eingebundenen Gesangbücher,
     eine Spende des Brautvaters zum heutigen Tag, und dazu die Zettel mit der fotokopierten Ordnung des Gottesdienstes.
    Er streifte das alles mit einem Blick und wartete das Ende der Musik ab.
    Als das Orgelspiel verklungen war, hob er den Kopf und sprach langsam den Satz, den er als Eingangsspruch gewählt hatte, mächtige
     Worte, die ihm das Gefühl gaben, dass sie den Raum weiteten und alle Anwesenden im gemeinsamen Glauben versammelten.
    »Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«
    Er lauschte dem Satz nach und sagte: »Amen.« Unterstützt von der Orgel sang die Gemeinde, meist nur die Frauenstimmen, die
     Antwort: ein in hoher Tonlage schwebendes und verfliegendes Amen. Er wartete einen Augenblick und sagte, indem er ungewollt
     die altertümliche Sprachform wählte: »Lasset uns beten.« Dann sprach er mit fester Stimme den Psalm »Der Herr ist mein Hirte«
     und hörte das gedämpfte, immer um eine halbe Sekunde verzögerte Gemurmel der Mitbeter, die bis zum Schluss des Textes nicht
     zu seiner Stimme aufschlossen und ihm manchmal das Gefühl |33| gaben, eine graue
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