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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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schaute zu dem Paar hinüber. Die junge Frau hatte gerade noch mitgesungen und hielt jetzt das |36| aufgeschlagene Gesangbuch auf dem Schoß, während sie sich ihrem Mann zuneigte, damit er ihr etwas ins Ohr sagen konnte. Sie
     lächelte, nickte. Dann schauten beide wieder geradeaus. Nach der nächsten Strophe musste er auf die Kanzel.
    Um sich zu konzentrieren, blickte er über die Köpfe der singenden Menge hinweg und sah in dem leeren Raum unter der gewölbten
     Decke eine kleine taumelige Bewegung. Es war ein Schmetterling. Er musste sich beim Hereinkommen der Leute in die Kirche verflogen
     haben und suchte vergeblich einen Weg ins Freie. Jetzt flog er zu einem der Seitenfenster hinüber, flatterte daran auf und
     ab.
    Das Lied war zu Ende. Er schritt zur Kanzel und stieg die Stufen hinauf, langsam, als ginge er durch ein dämmriges Dunkel,
     während er in seinem Kopf Worte zu versammeln versuchte, die wieder auseinanderstrebten: Trauung, Vertrauen, sich selbst trauen,
     einander trauen. Er hatte einen Zettel mit Stichworten in der Tasche seines Talars, aber es erschien ihm unzulässig, danach
     zu greifen. Vor ihm, auf der Brüstung der Kanzel, saß der Schmetterling, schlug die Flügel auf und zeigte auf samtbraunem
     Grund das Schreckmuster hell umrandeter, dunkler Augenflecken. Dann schloss er die Flügel, die sich kurz zu einem weißlichen
     Segel zusammenlegten, und als habe er den Lufthauch seiner Annäherung gespürt, flog er weg. Er tastete in der Tasche nach
     dem Stichwortzettel und knüllte ihn mit festem Griff zusammen.
    »Liebes Brautpaar, liebe Gemeinde«, hörte er sich sagen, und eine unbestimmte lange Pause trennte ihn |37| von seinem ersten Satz, den er oft vorausgedacht hatte und nun wieder finden musste. Er räusperte sich und spürte, wie die
     Spannung wuchs und alles unausweichlich wurde. Gott hilf mir!, dachte er. Und immer noch etwas heiser sagte er: »Lassen Sie
     uns über das Wort nachdenken, das den Vorgang bezeichnet, den wir gleich vollziehen wollen – das Wort: Trauung. Zwei Menschen
     geben sich gegenseitig das Versprechen, einen Lebensbund zu gründen, in dem einer dem anderen vertrauen kann. Das ist, wie
     das Leben zeigt, ein kühnes Unterfangen.«
    Ja, er war angekommen bei seinem Thema und fühlte seine Sicherheit wachsen. Er würde eine gute Predigt halten.
     
    Nach dem Gottesdienst lehnte er das Angebot des Brautvaters und Gastgebers, ihn in seinem Wagen mitzunehmen, dankend ab und
     ging erst einmal nach Hause. Er wollte im eigenen Auto ins Bellevue fahren, um unabhängig zu sein und aufbrechen zu können,
     wenn das Festessen in ein Familienfest überging. Vor allem aber hatte er das Bedürfnis, sich der Hochzeitsgesellschaft vorübergehend
     zu entziehen und eine Weile mit sich allein zu sein. Er ging gar nicht erst nach oben in seine Wohnung, sondern setzte sich
     in seinem Büro in seinen Schreibtischsessel und schloss die Augen. Deutlich erinnerte er sich an die kalte und feuchte Hand
     der Braut und die warme und trockene des Bräutigams. Er hatte die Hände zusammengefügt und einen Augenblick mit seiner Hand
     bedeckt, als müsste er sie aneinander gewöhnen. Dann hatte |38| er das Paar aufgefordert, auf der Altarstufe niederzuknien, und zum Segen seine Hände auf die beiden Köpfe gelegt. Vorher
     hatte er sich vergewissert, dass dort die zwei flachen Lederkissen bereitlagen. Ja, der Küster hatte daran gedacht, und alles
     war gut gegangen. So konnte er jetzt getrost zum Hochzeitsessen fahren.
    Ja, so hatte er es gedacht, mit diesem seelsorgerischen Wort »getrost«, das er immer zu vermeiden suchte, seit es im Predigtseminar
     als protestantische Brustwickel-Rhetorik bezeichnet worden war. Hinterrücks hatte es sich wieder in seine Gedanken eingeschlichen.
     Getrost sollte der Christ sein. Getrost in jeder Lebenslage. Getrost am Morgen und am Abend. Er verbot sich, zugespitztere
     Formulierungen zu suchen. Er musste aufbrechen.
     
    Er kam zu spät ins Hotel. Wahrscheinlich war er der letzte Gast. Denn als er den großen Speisesaal betrat, in den ihn die
     Empfangsdame weitergewiesen hatte, waren die Kellner dabei, die letzten Gedecke der Vorspeise abzuräumen und die Suppe aufzutragen.
     Er blieb in der zweiflügeligen Eingangstür stehen, um sich zu orientieren, da stand an der Kopfseite der Festtafel der Gastgeber
     und Brautvater auf und kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zugeeilt.
    »Da ist ja auch unser Ehrengast! Schön, dass Sie da sind, Herr
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