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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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    Die einzige gute Seite der schweren Krisenjahre war die Tatsache, daß sie unsere Familie wieder vereinten und meiner Schwester die ausgezeichnete Gelegenheit boten zu beweisen, daß ausnahmslos jeder ausnahmslos alles kann – besonders Betty. «Betty kann alles», lautete ihr Wahlspruch.
    Die unerschütterliche Überzeugung, daß Fähigkeit nur eine Sache des guten Willens ist, hatte Mary von meinen Eltern geerbt. Meine Mutter hatte sich im Lauf der Jahre und aus eigener Kraft zu einer begabten Kunstgewerblerin, phantasiereichen Köchin, ausgezeichneten Gärtnerin, zuverlässigen Hebamme, geschickten Schneiderin, Pro-Tag-ein-Buch-Leserin, vertrauenswürdigen Krankenpflegerin, erfahrenen Tierärztin, unermüdlichen Zuhörerin, blendenden Reiterin, glanzvollen Schwimmerin, sowie zum handfertigen Schreiner, überlegenen Farmer, furchtlosen Hundezüchter, beschlagenen Konversationslexikon für allgemeine Auskünfte und nicht zu unterschätzenden Steinmetz entwickelt. Sie betätigte sich gerade im Atelier eines Modezeichners in Boston, als sie meinen Vater traf, einen ehrgeizigen jungen Bergbauingenieur, der es fertigbrachte, sein Studium in Harvard bereits nach drei Jahren mit einem glanzvollen Examen abzuschließen, obwohl er tagsüber wohlhabenden jungen Leuten Unterricht erteilte und die Nächte hindurch im Observatorium arbeitete.
    Der Verbindung dieser beiden begabten Leute entsprossen fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, alle in verschiedenen Teilen der Vereinigten Staaten geboren und alle hoch gewachsen und rotköpfig, mit Ausnahme meiner Schwester Dede, die zierlich und dickköpfig ist.
    Mary, die älteste der Schar, erblickte in Butte, Montana, das Licht der Welt und entwickelte von Anfang an einen unerschöpflichen Vorrat von Ideen und eine unbändige Begeisterungsfähigkeit, insbesondere, wenn es sich um die Durchführung einer ihrer Ideen handelte. Ich, Betty, war der nächste Sprößling der Familie und suchte mir Boulder, Colorado, als Geburtsstätte aus. Vom zartesten Kindesalter an neigte ich Marys großartigen Ideen zu, wie die Wünschelrute sich dem Wasser entgegenbiegt.
    Ich war kaum ein paar Monate alt, als eines Tages Gammy, meine bei uns lebende Großmutter väterlicherseits, Mary nach einem Glas Wasser für mich zur Köchin schickte. Im Handumdrehen war meine Schwester zurück, in der Hand ein halbgefülltes Zahnputzglas. Gammy musterte das Glas argwöhnisch und begehrte zu wissen, wo Mary das Wasser geholt habe. «Im Klosett», erwiderte sie prompt. «Du bist ein ungezogenes kleines Mädchen, Mary!» wies meine Großmutter sie zurecht, aber das ließ Mary nicht auf sich sitzen. «Ich bin kein ungezogenes Mädchen», widersprach sie, und auf mich weisend, die ich lallend und täppisch nach dem Glas zu greifen versuchte, setzte sie hinzu: «Da – sieh doch! Sie hat's gern. Wir geben ihr immer Wasser aus dem Klosett.»
    Der Rest der Familie zeigte sich bedeutend weniger bereit als ich, das Versuchskaninchen für Mary abzugeben, und so gestattete sie den andern großzügig, zwischen den von ihnen selbst erdachten, mehr oder weniger mageren Einfällen und den von ihr ausgeheckten verlockenden, von Saft und Kraft strotzenden und freigebig zur Verfügung gestellten Ideen zu wählen.
    Meine erste Erinnerung daran, wie ich Trilby 1 für Mary als Svengali spielte, stammt aus Butte, wo Mary in jenem Winter allmorgendlich mit betonter Wichtigkeit zur McKinley Schule aufbrach – es war ihr zweites Schuljahr – während mein Bruder Cleve und ich, die ich schon lesen und schreiben konnte, uns ergeben zu Miss Crispins Kindergarten auf den Weg machten, einem trübseligen Betrieb, in dem es nur zerbrochene Bleistifte gab, von denen die Lackfarbe abblätterte.
    Der Gegensatz zwischen dem Kindergarten und einer richtigen Schule, besser gesagt zwischen Miss Crispins Institution und allem anderen mit Ausnahme einer Leichenhalle, bot sich mit schmerzlicher Klarheit sogar unseren vier- und fünfjährigen Gemütern dar, der Gegensatz aber zwischen den geisttötenden, langweiligen Stunden im Kindergarten und dem tollen Betrieb in Marys Schule, den sie mit mitreißender Lebendigkeit schilderte, schien uns über das Maß des Tragbaren zu gehen. In Miss Crispins Kindergarten ereignete sich nie etwas; an manchen Tagen war es noch langweiliger als üblich, das war alles, und so dunkel, daß wir uns tief über unsere Malversuche beugen mußten, um überhaupt rot von blau oder braun von schwarz unterscheiden zu
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